Sie ist theils ein Mittel, Mitleid zu erregen, und Unterstützung und Pflege zu erhalten 1), theils um bei öffentlichen Gelegenheiten, in Verabredung mit Taschendieben, die allgemeine Aufmerksamkeit zu fixiren, und einen Zusammenlauf zu veranlassen 2), theils aber auch im Verhör den plötzlichen Abbruch einer, für den in die Enge getriebenen Gauner gefährlich gewordenen Situation zu bewirken. Eine genaue Kenntniß der Symptome ist daher wesentlich förder- lich, die Simulation von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Be- stimmt und treffend zeichnet Schürmayer, a. a. O., die Unter- schiede: "Das wirkliche Vorhandensein der Epilepsie hat immer einen besondern Ausdruck in den Gesichtszügen, welche den mehr oder weniger deutlich ausgedrückten Stempel von Traurigkeit, Furchtsamkeit und Dummheit an sich tragen, insofern die Krank- heit schon einige oder längere Zeit dauert, was durch Betrug nicht wohl nachzuahmen ist. Bei dem wahren Epileptiker zeigt sich die Neigung der obern Augenlieder sich zu senken, und man bemerkt die Gewalt, die sich der Epileptiker anthut, um die Augen offen zu halten, wenn er etwas betrachten will; auch sprechen solche Kranke nur ungern von ihrer Krankheit, suchen sie sogar zu ver- heimlichen. Die simulirten Convulsionen sind sich, da die Betrüger ihre Rollen gewissermaßen auswendig lernen, in allen Paroxysmen fast ganz ähnlich, haben auch etwas Grimmassenartiges, was bei der Epilepsie nicht der Fall ist. Jn den wahren epileptischen An- fällen sind fast immer die Augen offen, die Pupille ist meistens erweitert oder auch krampfhaft zusammengezogen, die Jris in einer zitternden Bewegung; bei manchen Kranken rollen die Augen fürchterlich in ihren Höhlen umher, sind aber auch wol in ein- zelnen Momenten fast wie leblos fixirt. Dieser Zustand ist nicht nachzuahmen, und der verstellte Anfall wird besonders dadurch er- kennbar, wenn bei schnellem Anbringen eines Lichts vor die
1) Vgl. "Eberhardt's Polizeianzeiger", Bd. 42, Jahrgang 1856, S. 461, Nr. 1672, woselbst eins der merkwürdigsten Exemplare der Neuzeit gekenn- zeichnet ist.
2) Vgl. Kap. 21 vom Vertuss.
Sie iſt theils ein Mittel, Mitleid zu erregen, und Unterſtützung und Pflege zu erhalten 1), theils um bei öffentlichen Gelegenheiten, in Verabredung mit Taſchendieben, die allgemeine Aufmerkſamkeit zu fixiren, und einen Zuſammenlauf zu veranlaſſen 2), theils aber auch im Verhör den plötzlichen Abbruch einer, für den in die Enge getriebenen Gauner gefährlich gewordenen Situation zu bewirken. Eine genaue Kenntniß der Symptome iſt daher weſentlich förder- lich, die Simulation von der Wirklichkeit zu unterſcheiden. Be- ſtimmt und treffend zeichnet Schürmayer, a. a. O., die Unter- ſchiede: „Das wirkliche Vorhandenſein der Epilepſie hat immer einen beſondern Ausdruck in den Geſichtszügen, welche den mehr oder weniger deutlich ausgedrückten Stempel von Traurigkeit, Furchtſamkeit und Dummheit an ſich tragen, inſofern die Krank- heit ſchon einige oder längere Zeit dauert, was durch Betrug nicht wohl nachzuahmen iſt. Bei dem wahren Epileptiker zeigt ſich die Neigung der obern Augenlieder ſich zu ſenken, und man bemerkt die Gewalt, die ſich der Epileptiker anthut, um die Augen offen zu halten, wenn er etwas betrachten will; auch ſprechen ſolche Kranke nur ungern von ihrer Krankheit, ſuchen ſie ſogar zu ver- heimlichen. Die ſimulirten Convulſionen ſind ſich, da die Betrüger ihre Rollen gewiſſermaßen auswendig lernen, in allen Paroxysmen faſt ganz ähnlich, haben auch etwas Grimmaſſenartiges, was bei der Epilepſie nicht der Fall iſt. Jn den wahren epileptiſchen An- fällen ſind faſt immer die Augen offen, die Pupille iſt meiſtens erweitert oder auch krampfhaft zuſammengezogen, die Jris in einer zitternden Bewegung; bei manchen Kranken rollen die Augen fürchterlich in ihren Höhlen umher, ſind aber auch wol in ein- zelnen Momenten faſt wie leblos fixirt. Dieſer Zuſtand iſt nicht nachzuahmen, und der verſtellte Anfall wird beſonders dadurch er- kennbar, wenn bei ſchnellem Anbringen eines Lichts vor die
1) Vgl. „Eberhardt’s Polizeianzeiger“, Bd. 42, Jahrgang 1856, S. 461, Nr. 1672, woſelbſt eins der merkwürdigſten Exemplare der Neuzeit gekenn- zeichnet iſt.
2) Vgl. Kap. 21 vom Vertuſſ.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0055"n="43"/>
Sie iſt theils ein Mittel, Mitleid zu erregen, und Unterſtützung<lb/>
und Pflege zu erhalten <noteplace="foot"n="1)">Vgl. „Eberhardt’s Polizeianzeiger“, Bd. 42, Jahrgang 1856, S. 461,<lb/>
Nr. 1672, woſelbſt eins der merkwürdigſten Exemplare der Neuzeit gekenn-<lb/>
zeichnet iſt.</note>, theils um bei öffentlichen Gelegenheiten,<lb/>
in Verabredung mit Taſchendieben, die allgemeine Aufmerkſamkeit<lb/>
zu fixiren, und einen Zuſammenlauf zu veranlaſſen <noteplace="foot"n="2)">Vgl. Kap. 21 vom Vertuſſ.</note>, theils aber<lb/>
auch im Verhör den plötzlichen Abbruch einer, für den in die Enge<lb/>
getriebenen Gauner gefährlich gewordenen Situation zu bewirken.<lb/>
Eine genaue Kenntniß der Symptome iſt daher weſentlich förder-<lb/>
lich, die Simulation von der Wirklichkeit zu unterſcheiden. Be-<lb/>ſtimmt und treffend zeichnet Schürmayer, a. a. O., die Unter-<lb/>ſchiede: „Das wirkliche Vorhandenſein der Epilepſie hat immer<lb/>
einen beſondern Ausdruck in den Geſichtszügen, welche den mehr<lb/>
oder weniger deutlich ausgedrückten Stempel von Traurigkeit,<lb/>
Furchtſamkeit und Dummheit an ſich tragen, inſofern die Krank-<lb/>
heit ſchon einige oder längere Zeit dauert, was durch Betrug nicht<lb/>
wohl nachzuahmen iſt. Bei dem wahren Epileptiker zeigt ſich die<lb/>
Neigung der obern Augenlieder ſich zu ſenken, und man bemerkt<lb/>
die Gewalt, die ſich der Epileptiker anthut, um die Augen offen<lb/>
zu halten, wenn er etwas betrachten will; auch ſprechen ſolche<lb/>
Kranke nur ungern von ihrer Krankheit, ſuchen ſie ſogar zu ver-<lb/>
heimlichen. Die ſimulirten Convulſionen ſind ſich, da die Betrüger<lb/>
ihre Rollen gewiſſermaßen auswendig lernen, in allen Paroxysmen<lb/>
faſt ganz ähnlich, haben auch etwas Grimmaſſenartiges, was bei<lb/>
der Epilepſie nicht der Fall iſt. Jn den wahren epileptiſchen An-<lb/>
fällen ſind faſt immer die Augen offen, die Pupille iſt meiſtens<lb/>
erweitert oder auch krampfhaft zuſammengezogen, die Jris in<lb/>
einer zitternden Bewegung; bei manchen Kranken rollen die Augen<lb/>
fürchterlich in ihren Höhlen umher, ſind aber auch wol in ein-<lb/>
zelnen Momenten faſt wie leblos fixirt. Dieſer Zuſtand iſt nicht<lb/>
nachzuahmen, und der verſtellte Anfall wird beſonders dadurch er-<lb/>
kennbar, wenn bei ſchnellem Anbringen eines Lichts vor die<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[43/0055]
Sie iſt theils ein Mittel, Mitleid zu erregen, und Unterſtützung
und Pflege zu erhalten 1), theils um bei öffentlichen Gelegenheiten,
in Verabredung mit Taſchendieben, die allgemeine Aufmerkſamkeit
zu fixiren, und einen Zuſammenlauf zu veranlaſſen 2), theils aber
auch im Verhör den plötzlichen Abbruch einer, für den in die Enge
getriebenen Gauner gefährlich gewordenen Situation zu bewirken.
Eine genaue Kenntniß der Symptome iſt daher weſentlich förder-
lich, die Simulation von der Wirklichkeit zu unterſcheiden. Be-
ſtimmt und treffend zeichnet Schürmayer, a. a. O., die Unter-
ſchiede: „Das wirkliche Vorhandenſein der Epilepſie hat immer
einen beſondern Ausdruck in den Geſichtszügen, welche den mehr
oder weniger deutlich ausgedrückten Stempel von Traurigkeit,
Furchtſamkeit und Dummheit an ſich tragen, inſofern die Krank-
heit ſchon einige oder längere Zeit dauert, was durch Betrug nicht
wohl nachzuahmen iſt. Bei dem wahren Epileptiker zeigt ſich die
Neigung der obern Augenlieder ſich zu ſenken, und man bemerkt
die Gewalt, die ſich der Epileptiker anthut, um die Augen offen
zu halten, wenn er etwas betrachten will; auch ſprechen ſolche
Kranke nur ungern von ihrer Krankheit, ſuchen ſie ſogar zu ver-
heimlichen. Die ſimulirten Convulſionen ſind ſich, da die Betrüger
ihre Rollen gewiſſermaßen auswendig lernen, in allen Paroxysmen
faſt ganz ähnlich, haben auch etwas Grimmaſſenartiges, was bei
der Epilepſie nicht der Fall iſt. Jn den wahren epileptiſchen An-
fällen ſind faſt immer die Augen offen, die Pupille iſt meiſtens
erweitert oder auch krampfhaft zuſammengezogen, die Jris in
einer zitternden Bewegung; bei manchen Kranken rollen die Augen
fürchterlich in ihren Höhlen umher, ſind aber auch wol in ein-
zelnen Momenten faſt wie leblos fixirt. Dieſer Zuſtand iſt nicht
nachzuahmen, und der verſtellte Anfall wird beſonders dadurch er-
kennbar, wenn bei ſchnellem Anbringen eines Lichts vor die
1) Vgl. „Eberhardt’s Polizeianzeiger“, Bd. 42, Jahrgang 1856, S. 461,
Nr. 1672, woſelbſt eins der merkwürdigſten Exemplare der Neuzeit gekenn-
zeichnet iſt.
2) Vgl. Kap. 21 vom Vertuſſ.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/55>, abgerufen am 09.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.