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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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zeit, in welchem Falle meistens die Flucht versucht, wenn nicht
zur Gegenwehr und Gewalt gegriffen wird. Am Tage ist die
Gegenwart eines Fremden, der beim Aufstoß sogleich nach einem
Herrn Müller, Meyer oder Fischer u. s. w. fragt, einigermaßen
unverdächtig anzusehen, namentlich wenn er sich als Geschäfts-
mann zu irgendeinem Gewerbe, als zum Zahnausziehen, Frisiren,
Rasiren, Klavierstimmen, Tapeziren, Uhrenaufziehen, oder die
weibliche Gaunerin als Hebamme, Lavementsetzerin, Putzhändlerin
bestellt, in Gasthöfen auch wol fich sogar für eine disponible
Person ausgibt. Selbst im schon aufgeschlossenen Zimmer kann
der Dieb beim Aufstoß sich als für ein solches Gewerbe bestellt
geltend machen und sein Eintreten durch die offengefundene Thür
artig entschuldigen. 1) Aus gleicher Vorsicht geht der schon mit
gestohlenen Sachen bepackte Dieb stets rückwärts die Treppen
hinab, indem er bei herannahendem Geräusch sofort die Treppen
hinansteigen kann, als ob er Sachen an Herrn Müller, Meyer,
Fischer u. s. w. bringen will, wobei er denn meistens von dem
Bestohlenen selbst als in eine falsche Wohnung gerathen, aus dem
Hause gewiesen wird, das er denn auch mit einer flüchtigen Ent-
schuldigung rasch verläßt. Andere feste Regeln können kaum an-
geführt werden. Die jedesmalige Situation gibt die Rorm, beim
Aufstoß den Freier zu meistern, damit der Massematten vollständig
"gehandelt" werde.



1) Einen solchen sehr pikanten Fall erzählt Thiele, a. a. O., I, 37.
Hirsch Salomon Wohlauer, der im Jahre 1830 das Logis eines in Berlin
anwesenden fremden Leinwandhändlers aufgeschlossen, aus einer Schublade
62 Thaler entwandt hatte, und schon im Begriff war fortzugehen, wurde vom
unerwartet dazu kommenden Bestohlenen noch im Zimmer betroffen. Ohne die
mindeste Verlegenheit redete Wohlauer jenen an, wie er so unvorsichtig sein
könne, die Thür offen zu lassen, die er offen gefunden habe, als er gekommen
sei, um Leinwand zu kaufen. Wohlauer kaufte hierauf dem Bestohlenen noch
ein Stück Leinwand ab, bezahlte es mit dem gestohlenen Gelde und entfernte
sich unangefochten.

zeit, in welchem Falle meiſtens die Flucht verſucht, wenn nicht
zur Gegenwehr und Gewalt gegriffen wird. Am Tage iſt die
Gegenwart eines Fremden, der beim Aufſtoß ſogleich nach einem
Herrn Müller, Meyer oder Fiſcher u. ſ. w. fragt, einigermaßen
unverdächtig anzuſehen, namentlich wenn er ſich als Geſchäfts-
mann zu irgendeinem Gewerbe, als zum Zahnausziehen, Friſiren,
Raſiren, Klavierſtimmen, Tapeziren, Uhrenaufziehen, oder die
weibliche Gaunerin als Hebamme, Lavementſetzerin, Putzhändlerin
beſtellt, in Gaſthöfen auch wol fich ſogar für eine disponible
Perſon ausgibt. Selbſt im ſchon aufgeſchloſſenen Zimmer kann
der Dieb beim Aufſtoß ſich als für ein ſolches Gewerbe beſtellt
geltend machen und ſein Eintreten durch die offengefundene Thür
artig entſchuldigen. 1) Aus gleicher Vorſicht geht der ſchon mit
geſtohlenen Sachen bepackte Dieb ſtets rückwärts die Treppen
hinab, indem er bei herannahendem Geräuſch ſofort die Treppen
hinanſteigen kann, als ob er Sachen an Herrn Müller, Meyer,
Fiſcher u. ſ. w. bringen will, wobei er denn meiſtens von dem
Beſtohlenen ſelbſt als in eine falſche Wohnung gerathen, aus dem
Hauſe gewieſen wird, das er denn auch mit einer flüchtigen Ent-
ſchuldigung raſch verläßt. Andere feſte Regeln können kaum an-
geführt werden. Die jedesmalige Situation gibt die Rorm, beim
Aufſtoß den Freier zu meiſtern, damit der Maſſematten vollſtändig
„gehandelt“ werde.



1) Einen ſolchen ſehr pikanten Fall erzählt Thiele, a. a. O., I, 37.
Hirſch Salomon Wohlauer, der im Jahre 1830 das Logis eines in Berlin
anweſenden fremden Leinwandhändlers aufgeſchloſſen, aus einer Schublade
62 Thaler entwandt hatte, und ſchon im Begriff war fortzugehen, wurde vom
unerwartet dazu kommenden Beſtohlenen noch im Zimmer betroffen. Ohne die
mindeſte Verlegenheit redete Wohlauer jenen an, wie er ſo unvorſichtig ſein
könne, die Thür offen zu laſſen, die er offen gefunden habe, als er gekommen
ſei, um Leinwand zu kaufen. Wohlauer kaufte hierauf dem Beſtohlenen noch
ein Stück Leinwand ab, bezahlte es mit dem geſtohlenen Gelde und entfernte
ſich unangefochten.
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[78/0090] zeit, in welchem Falle meiſtens die Flucht verſucht, wenn nicht zur Gegenwehr und Gewalt gegriffen wird. Am Tage iſt die Gegenwart eines Fremden, der beim Aufſtoß ſogleich nach einem Herrn Müller, Meyer oder Fiſcher u. ſ. w. fragt, einigermaßen unverdächtig anzuſehen, namentlich wenn er ſich als Geſchäfts- mann zu irgendeinem Gewerbe, als zum Zahnausziehen, Friſiren, Raſiren, Klavierſtimmen, Tapeziren, Uhrenaufziehen, oder die weibliche Gaunerin als Hebamme, Lavementſetzerin, Putzhändlerin beſtellt, in Gaſthöfen auch wol fich ſogar für eine disponible Perſon ausgibt. Selbſt im ſchon aufgeſchloſſenen Zimmer kann der Dieb beim Aufſtoß ſich als für ein ſolches Gewerbe beſtellt geltend machen und ſein Eintreten durch die offengefundene Thür artig entſchuldigen. 1) Aus gleicher Vorſicht geht der ſchon mit geſtohlenen Sachen bepackte Dieb ſtets rückwärts die Treppen hinab, indem er bei herannahendem Geräuſch ſofort die Treppen hinanſteigen kann, als ob er Sachen an Herrn Müller, Meyer, Fiſcher u. ſ. w. bringen will, wobei er denn meiſtens von dem Beſtohlenen ſelbſt als in eine falſche Wohnung gerathen, aus dem Hauſe gewieſen wird, das er denn auch mit einer flüchtigen Ent- ſchuldigung raſch verläßt. Andere feſte Regeln können kaum an- geführt werden. Die jedesmalige Situation gibt die Rorm, beim Aufſtoß den Freier zu meiſtern, damit der Maſſematten vollſtändig „gehandelt“ werde. 1) Einen ſolchen ſehr pikanten Fall erzählt Thiele, a. a. O., I, 37. Hirſch Salomon Wohlauer, der im Jahre 1830 das Logis eines in Berlin anweſenden fremden Leinwandhändlers aufgeſchloſſen, aus einer Schublade 62 Thaler entwandt hatte, und ſchon im Begriff war fortzugehen, wurde vom unerwartet dazu kommenden Beſtohlenen noch im Zimmer betroffen. Ohne die mindeſte Verlegenheit redete Wohlauer jenen an, wie er ſo unvorſichtig ſein könne, die Thür offen zu laſſen, die er offen gefunden habe, als er gekommen ſei, um Leinwand zu kaufen. Wohlauer kaufte hierauf dem Beſtohlenen noch ein Stück Leinwand ab, bezahlte es mit dem geſtohlenen Gelde und entfernte ſich unangefochten.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/90>, abgerufen am 28.03.2024.