terten Judengemeinden es möglich gemacht wurde, mehr als 6000 verschiedene Druckwerke zu verbreiten. 1)
Bei weitem weniger die Rücksicht auf das weibliche Geschlecht, auf die "ungelernte" Jugend und auf das in Deutschland beson- ders schwer verfolgte, gequälte und in schrecklicher Verkümmerung hinvegetirende niedere jüdische Volk, welches nicht "lernen" (oder "Thora lernen", d. h. mit dem Studium der heiligen Gesetzbücher aus den Quellen sich befassen) konnte, als die Rücksicht auf das trotz allen Widerstandes doch allmählich immermehr in das Juden- thum natürlich und unabweisbar vordringende deutsche Element, welches dem jüdischen Elemente vielfach Abbruch zu thun drohte, und die Rücksicht auf den ungeheuern Erfolg der deutschen Volkspoesie und der Luther'schen Bibelübersetzung scheint auf die Nothwendigkeit hingewiesen zu haben, die heiligen jüdischen Schriften, Sprüche und Erzählungen weiser Lehrer, Synagogen- und Hausgebete u. dgl. in einer populären, beiden Elementen Rechnung tragenden Sprache dem versunkenen jüdischen Volke wieder zugänglich und verständ- lich zu machen und durch gewählte Erzählungen, Sittenbücher und Volksschriften auf das Volk zu seiner Erbauung, Unterhal- tung und sittlichen Hebung günstig einzuwirken. Die schon aus- gebildete jüdische Sprache mit ihren längst populär gewordenen hebräischen Reminiscenzen, welche auch den in der deutschen Sprache schlecht bewanderten Uebersetzern, meistens Rabbinern, sich auf- drängten, wenn diese eine reine deutsche Uebersetzung geben woll- ten, machte sich bei dem beabsichtigten Zwecke sehr stark geltend. So entstand in der aus den verschiedenartigsten Sprachstoffen com- primirten unnatürlichsten Sprache der Welt, wie keine andere Sprache auch nur ähnlich gefunden wird, eine so reiche, in die vollste Tiefe des religiösen, wissenschaftlichen, sittlichen und über- haupt socialpolitischen Lebens hineingreifende Literatur, daß man von Erstaunen über diese Fülle hingerissen und von Wehmuth ergriffen wird, daß solche Spenden in solchen widerwärtig arm- seligen Formen gegeben wurden. 2) Seitdem unter dem Namen
1) Vgl. Jost, "Geschichte des Judenthums", III, 258.
2) Wie armselig erscheint die Sprache in dem prächtigen [fremdsprachliches Material] des
Ave-Lallemant, Gaunerthum. III. 14
terten Judengemeinden es möglich gemacht wurde, mehr als 6000 verſchiedene Druckwerke zu verbreiten. 1)
Bei weitem weniger die Rückſicht auf das weibliche Geſchlecht, auf die „ungelernte“ Jugend und auf das in Deutſchland beſon- ders ſchwer verfolgte, gequälte und in ſchrecklicher Verkümmerung hinvegetirende niedere jüdiſche Volk, welches nicht „lernen“ (oder „Thora lernen“, d. h. mit dem Studium der heiligen Geſetzbücher aus den Quellen ſich befaſſen) konnte, als die Rückſicht auf das trotz allen Widerſtandes doch allmählich immermehr in das Juden- thum natürlich und unabweisbar vordringende deutſche Element, welches dem jüdiſchen Elemente vielfach Abbruch zu thun drohte, und die Rückſicht auf den ungeheuern Erfolg der deutſchen Volkspoeſie und der Luther’ſchen Bibelüberſetzung ſcheint auf die Nothwendigkeit hingewieſen zu haben, die heiligen jüdiſchen Schriften, Sprüche und Erzählungen weiſer Lehrer, Synagogen- und Hausgebete u. dgl. in einer populären, beiden Elementen Rechnung tragenden Sprache dem verſunkenen jüdiſchen Volke wieder zugänglich und verſtänd- lich zu machen und durch gewählte Erzählungen, Sittenbücher und Volksſchriften auf das Volk zu ſeiner Erbauung, Unterhal- tung und ſittlichen Hebung günſtig einzuwirken. Die ſchon aus- gebildete jüdiſche Sprache mit ihren längſt populär gewordenen hebräiſchen Reminiſcenzen, welche auch den in der deutſchen Sprache ſchlecht bewanderten Ueberſetzern, meiſtens Rabbinern, ſich auf- drängten, wenn dieſe eine reine deutſche Ueberſetzung geben woll- ten, machte ſich bei dem beabſichtigten Zwecke ſehr ſtark geltend. So entſtand in der aus den verſchiedenartigſten Sprachſtoffen com- primirten unnatürlichſten Sprache der Welt, wie keine andere Sprache auch nur ähnlich gefunden wird, eine ſo reiche, in die vollſte Tiefe des religiöſen, wiſſenſchaftlichen, ſittlichen und über- haupt ſocialpolitiſchen Lebens hineingreifende Literatur, daß man von Erſtaunen über dieſe Fülle hingeriſſen und von Wehmuth ergriffen wird, daß ſolche Spenden in ſolchen widerwärtig arm- ſeligen Formen gegeben wurden. 2) Seitdem unter dem Namen
1) Vgl. Joſt, „Geſchichte des Judenthums“, III, 258.
2) Wie armſelig erſcheint die Sprache in dem prächtigen [fremdsprachliches Material] des
Avé-Lallemant, Gaunerthum. III. 14
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0243"n="209"/>
terten Judengemeinden es möglich gemacht wurde, mehr als 6000<lb/>
verſchiedene Druckwerke zu verbreiten. <noteplace="foot"n="1)">Vgl. Joſt, „Geſchichte des Judenthums“, <hirendition="#aq">III</hi>, 258.</note></p><lb/><p>Bei weitem weniger die Rückſicht auf das weibliche Geſchlecht,<lb/>
auf die „ungelernte“ Jugend und auf das in Deutſchland beſon-<lb/>
ders ſchwer verfolgte, gequälte und in ſchrecklicher Verkümmerung<lb/>
hinvegetirende niedere jüdiſche Volk, welches nicht „lernen“ (oder<lb/>„Thora lernen“, d. h. mit dem Studium der heiligen Geſetzbücher<lb/>
aus den Quellen ſich befaſſen) konnte, als die Rückſicht auf das<lb/>
trotz allen Widerſtandes doch allmählich immermehr in das Juden-<lb/>
thum natürlich und unabweisbar vordringende deutſche Element,<lb/>
welches dem jüdiſchen Elemente vielfach Abbruch zu thun drohte, und<lb/>
die Rückſicht auf den ungeheuern Erfolg der deutſchen Volkspoeſie<lb/>
und der Luther’ſchen Bibelüberſetzung ſcheint auf die Nothwendigkeit<lb/>
hingewieſen zu haben, die heiligen jüdiſchen Schriften, Sprüche<lb/>
und Erzählungen weiſer Lehrer, Synagogen- und Hausgebete u. dgl.<lb/>
in einer populären, beiden Elementen Rechnung tragenden Sprache<lb/>
dem verſunkenen jüdiſchen Volke wieder zugänglich und verſtänd-<lb/>
lich zu machen und durch gewählte Erzählungen, Sittenbücher<lb/>
und Volksſchriften auf das Volk zu ſeiner Erbauung, Unterhal-<lb/>
tung und ſittlichen Hebung günſtig einzuwirken. Die ſchon aus-<lb/>
gebildete jüdiſche Sprache mit ihren längſt populär gewordenen<lb/>
hebräiſchen Reminiſcenzen, welche auch den in der deutſchen Sprache<lb/>ſchlecht bewanderten Ueberſetzern, meiſtens Rabbinern, ſich auf-<lb/>
drängten, wenn dieſe eine reine deutſche Ueberſetzung geben woll-<lb/>
ten, machte ſich bei dem beabſichtigten Zwecke ſehr ſtark geltend.<lb/>
So entſtand in der aus den verſchiedenartigſten Sprachſtoffen com-<lb/>
primirten unnatürlichſten Sprache der Welt, wie keine andere<lb/>
Sprache auch nur ähnlich gefunden wird, eine ſo reiche, in die<lb/>
vollſte Tiefe des religiöſen, wiſſenſchaftlichen, ſittlichen und über-<lb/>
haupt ſocialpolitiſchen Lebens hineingreifende Literatur, daß man<lb/>
von Erſtaunen über dieſe Fülle hingeriſſen und von Wehmuth<lb/>
ergriffen wird, daß ſolche Spenden in ſolchen widerwärtig arm-<lb/>ſeligen Formen gegeben wurden. <notexml:id="seg2pn_25_1"next="#seg2pn_25_2"place="foot"n="2)">Wie armſelig erſcheint die Sprache in dem prächtigen <gapreason="fm"/> des</note> Seitdem unter dem Namen<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Avé-Lallemant,</hi> Gaunerthum. <hirendition="#aq">III.</hi> 14</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[209/0243]
terten Judengemeinden es möglich gemacht wurde, mehr als 6000
verſchiedene Druckwerke zu verbreiten. 1)
Bei weitem weniger die Rückſicht auf das weibliche Geſchlecht,
auf die „ungelernte“ Jugend und auf das in Deutſchland beſon-
ders ſchwer verfolgte, gequälte und in ſchrecklicher Verkümmerung
hinvegetirende niedere jüdiſche Volk, welches nicht „lernen“ (oder
„Thora lernen“, d. h. mit dem Studium der heiligen Geſetzbücher
aus den Quellen ſich befaſſen) konnte, als die Rückſicht auf das
trotz allen Widerſtandes doch allmählich immermehr in das Juden-
thum natürlich und unabweisbar vordringende deutſche Element,
welches dem jüdiſchen Elemente vielfach Abbruch zu thun drohte, und
die Rückſicht auf den ungeheuern Erfolg der deutſchen Volkspoeſie
und der Luther’ſchen Bibelüberſetzung ſcheint auf die Nothwendigkeit
hingewieſen zu haben, die heiligen jüdiſchen Schriften, Sprüche
und Erzählungen weiſer Lehrer, Synagogen- und Hausgebete u. dgl.
in einer populären, beiden Elementen Rechnung tragenden Sprache
dem verſunkenen jüdiſchen Volke wieder zugänglich und verſtänd-
lich zu machen und durch gewählte Erzählungen, Sittenbücher
und Volksſchriften auf das Volk zu ſeiner Erbauung, Unterhal-
tung und ſittlichen Hebung günſtig einzuwirken. Die ſchon aus-
gebildete jüdiſche Sprache mit ihren längſt populär gewordenen
hebräiſchen Reminiſcenzen, welche auch den in der deutſchen Sprache
ſchlecht bewanderten Ueberſetzern, meiſtens Rabbinern, ſich auf-
drängten, wenn dieſe eine reine deutſche Ueberſetzung geben woll-
ten, machte ſich bei dem beabſichtigten Zwecke ſehr ſtark geltend.
So entſtand in der aus den verſchiedenartigſten Sprachſtoffen com-
primirten unnatürlichſten Sprache der Welt, wie keine andere
Sprache auch nur ähnlich gefunden wird, eine ſo reiche, in die
vollſte Tiefe des religiöſen, wiſſenſchaftlichen, ſittlichen und über-
haupt ſocialpolitiſchen Lebens hineingreifende Literatur, daß man
von Erſtaunen über dieſe Fülle hingeriſſen und von Wehmuth
ergriffen wird, daß ſolche Spenden in ſolchen widerwärtig arm-
ſeligen Formen gegeben wurden. 2) Seitdem unter dem Namen
1) Vgl. Joſt, „Geſchichte des Judenthums“, III, 258.
2) Wie armſelig erſcheint die Sprache in dem prächtigen _ des
Avé-Lallemant, Gaunerthum. III. 14
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/243>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.