der Gesammtheit eine einige Regelung zuläßt, ja sogar fordert: das Judendeutsch ist kein deutscher Volksdialekt. Der Grund des Mangels liegt darin, daß die gewaltsame, dichte Compression so heterogener Sprachstoffe das Ganze sowol in der Totalität ver- dunkelte, als auch das Einzelne in der Totalität für die Analyse schwierig und unlöslich und darum die ganze Grundlage trübe und unkenntlich machte. Vermöge der argen Verkümmerung des Judenthums und seines Abschlusses von aller deutschen Bildung verstanden die Literatoren der jüdischdeutschen Sprache von der deutschen Sprache nur den wildwüchsigen deutschen Volksdialekt, in dessen Bereiche sie lebten. Die um Verbreitung der Cultur unter ihr Volk bekümmerten, selbst gelehrtesten Rabbinen waren durchgehends in der deutschen Grammatik ganz unbewandert. Auf der andern Seite waren die christlichen Orientalisten, deren Auf- merksamkeit das Judendeutsch nicht entgehen konnte, so befangen in dem im Judendeutsch sich kundgebenden hebräischen Elemente, daß sie nur dieses aufgriffen und die ohnehin auch von ihnen nicht gründlich erforschte deutsche Sprache als den Hauptfactor des Judendeutsch übersahen. So blieb auch ihnen das Judendeutsch eine specifisch jüdische Eigenthümlichkeit, und aus dieser stillschwei- genden Anerkennung solcher specifisch jüdischen Eigenthümlichkeit des Judendeutsch erklärt sich die merkwürdige Erscheinung, daß seit der an Stelle der von Karl V. her besonders schlimm getriebenen Judenverfolgungen allmählich auftauchenden ungelenken Proselyten- macherei die von den christlichen Orientalisten aufgenommene jüdisch- deutsche Grammatik auch später nicht über die dürrste Anleitung zum Lesen hinausging und in der von ihnen in die Hand ge- nommenen Missionsliteratur das kaum von ihnen tiefer aufgefaßte und berücksichtigte specifisch jüdische Element im Judendeutsch im- mermehr verblich, bis man endlich in dieser Missionsliteratur nichts anderes wiederfindet als die Uebersetzung deutscher Schriften in das Deutsche mit jüdischdeutschen Lettern 1), während im Gegen-
1) Das gerade ist es, was neben der ungelenken und leider oft so sehr eiteln Scheingelehrsamkeit der christlichen Verfasser, welche doch nicht tiefer in
der Geſammtheit eine einige Regelung zuläßt, ja ſogar fordert: das Judendeutſch iſt kein deutſcher Volksdialekt. Der Grund des Mangels liegt darin, daß die gewaltſame, dichte Compreſſion ſo heterogener Sprachſtoffe das Ganze ſowol in der Totalität ver- dunkelte, als auch das Einzelne in der Totalität für die Analyſe ſchwierig und unlöslich und darum die ganze Grundlage trübe und unkenntlich machte. Vermöge der argen Verkümmerung des Judenthums und ſeines Abſchluſſes von aller deutſchen Bildung verſtanden die Literatoren der jüdiſchdeutſchen Sprache von der deutſchen Sprache nur den wildwüchſigen deutſchen Volksdialekt, in deſſen Bereiche ſie lebten. Die um Verbreitung der Cultur unter ihr Volk bekümmerten, ſelbſt gelehrteſten Rabbinen waren durchgehends in der deutſchen Grammatik ganz unbewandert. Auf der andern Seite waren die chriſtlichen Orientaliſten, deren Auf- merkſamkeit das Judendeutſch nicht entgehen konnte, ſo befangen in dem im Judendeutſch ſich kundgebenden hebräiſchen Elemente, daß ſie nur dieſes aufgriffen und die ohnehin auch von ihnen nicht gründlich erforſchte deutſche Sprache als den Hauptfactor des Judendeutſch überſahen. So blieb auch ihnen das Judendeutſch eine ſpecifiſch jüdiſche Eigenthümlichkeit, und aus dieſer ſtillſchwei- genden Anerkennung ſolcher ſpecifiſch jüdiſchen Eigenthümlichkeit des Judendeutſch erklärt ſich die merkwürdige Erſcheinung, daß ſeit der an Stelle der von Karl V. her beſonders ſchlimm getriebenen Judenverfolgungen allmählich auftauchenden ungelenken Proſelyten- macherei die von den chriſtlichen Orientaliſten aufgenommene jüdiſch- deutſche Grammatik auch ſpäter nicht über die dürrſte Anleitung zum Leſen hinausging und in der von ihnen in die Hand ge- nommenen Miſſionsliteratur das kaum von ihnen tiefer aufgefaßte und berückſichtigte ſpecifiſch jüdiſche Element im Judendeutſch im- mermehr verblich, bis man endlich in dieſer Miſſionsliteratur nichts anderes wiederfindet als die Ueberſetzung deutſcher Schriften in das Deutſche mit jüdiſchdeutſchen Lettern 1), während im Gegen-
1) Das gerade iſt es, was neben der ungelenken und leider oft ſo ſehr eiteln Scheingelehrſamkeit der chriſtlichen Verfaſſer, welche doch nicht tiefer in
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der Geſammtheit eine einige Regelung zuläßt, ja ſogar fordert:
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Mangels liegt darin, daß die gewaltſame, dichte Compreſſion ſo
heterogener Sprachſtoffe das Ganze ſowol in der Totalität ver-
dunkelte, als auch das Einzelne in der Totalität für die Analyſe
ſchwierig und unlöslich und darum die ganze Grundlage trübe
und unkenntlich machte. Vermöge der argen Verkümmerung des
Judenthums und ſeines Abſchluſſes von aller deutſchen Bildung
verſtanden die Literatoren der jüdiſchdeutſchen Sprache von der
deutſchen Sprache nur den wildwüchſigen deutſchen Volksdialekt,
in deſſen Bereiche ſie lebten. Die um Verbreitung der Cultur
unter ihr Volk bekümmerten, ſelbſt gelehrteſten Rabbinen waren
durchgehends in der deutſchen Grammatik ganz unbewandert. Auf
der andern Seite waren die chriſtlichen Orientaliſten, deren Auf-
merkſamkeit das Judendeutſch nicht entgehen konnte, ſo befangen
in dem im Judendeutſch ſich kundgebenden hebräiſchen Elemente,
daß ſie nur dieſes aufgriffen und die ohnehin auch von ihnen
nicht gründlich erforſchte deutſche Sprache als den Hauptfactor des
Judendeutſch überſahen. So blieb auch ihnen das Judendeutſch
eine ſpecifiſch jüdiſche Eigenthümlichkeit, und aus dieſer ſtillſchwei-
genden Anerkennung ſolcher ſpecifiſch jüdiſchen Eigenthümlichkeit
des Judendeutſch erklärt ſich die merkwürdige Erſcheinung, daß ſeit
der an Stelle der von Karl V. her beſonders ſchlimm getriebenen
Judenverfolgungen allmählich auftauchenden ungelenken Proſelyten-
macherei die von den chriſtlichen Orientaliſten aufgenommene jüdiſch-
deutſche Grammatik auch ſpäter nicht über die dürrſte Anleitung
zum Leſen hinausging und in der von ihnen in die Hand ge-
nommenen Miſſionsliteratur das kaum von ihnen tiefer aufgefaßte
und berückſichtigte ſpecifiſch jüdiſche Element im Judendeutſch im-
mermehr verblich, bis man endlich in dieſer Miſſionsliteratur nichts
anderes wiederfindet als die Ueberſetzung deutſcher Schriften in
das Deutſche mit jüdiſchdeutſchen Lettern 1), während im Gegen-
1) Das gerade iſt es, was neben der ungelenken und leider oft ſo ſehr
eiteln Scheingelehrſamkeit der chriſtlichen Verfaſſer, welche doch nicht tiefer in
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/246>, abgerufen am 24.11.2024.
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