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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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Scholion V.
Ueber das Verhältniss der Formen, die das Individuum in den
verschiedenen Stufen seiner Entwickelung annimmt.


§. 1.
Die herrschende Vorstellung, dass der Embryo höherer Thiere die bleibenden
Formen der niederen Thiere durchlaufe.

Ueber das Verhältniss der Formen, die der Embryo allmählig annimmt,
ist zwar schon im Verlaufe der Erzählung von der Entwickelungsweise des Hühn-
chens an den geeigneten Stellen gesprochen. Es scheint mir aber bei der Wichtig-
keit des Gegenstandes und dem Interesse, welches man ihm besonders in neuerer
Zeit geschenkt hat, passend und nothwendig, jenem Verhältnisse eine besondere
Untersuchung zu widmen, da es mir etwas anders darstellt, als es nach der
herrschenden Meinung seyn sollte.

Um bei der Entwickelung meiner Ansicht verständlich zu werden und das,a. Die in-
dividuelle
Entwicke-
lung soll der
Reihe der
bleibenden
Thierformen
entsprechen.

was ihr wesentlich ist, schärfer hervorheben zu können, sey es erlaubt, zu-
vörderst die jetzt herrschende Vorstellungsweise von den Bildungsstufen des
Embryo zu beleuchten.

Wenige Darstellungen von Verhältnissen in der organischen Welt haben so
viel Beifall gefunden, als die: dass die höheren Thierformen in den einzelnen
Stufen der Entwickelung des Individuums vom ersten Entstehen an bis zur erlangten
Ausbildung den bleibenden Formen in der Thierreihe entsprechen, und dass die
Entwickelung der einzelnen Thiere nach denselben Gesetzen, wie die der ganzen
Thierreihe, erfolge, das höher organisirte Thier also in seiner individuellen Aus-
bildung dem Wesentlichen nach die unter ihm stehenden, bleibenden Stufen durch-
läuft, so dass die periodischen Verschiedenheiten des Individuums sich auf die
Verschiedenheiten der bleibenden Thierformen zurückführen lassen.

Diese Idee, lebendig geworden zu einer Zeit, wo ausser von Malpighi
und Wolff noch keine zusammenhängenden Untersuchungen über die frühern
Perioden der Entwickelungsgeschichte irgend eines Thiers angestellt waren und

Scholion V.
Ueber das Verhältniſs der Formen, die das Individuum in den
verschiedenen Stufen seiner Entwickelung annimmt.


§. 1.
Die herrschende Vorstellung, daſs der Embryo höherer Thiere die bleibenden
Formen der niederen Thiere durchlaufe.

Ueber das Verhältniſs der Formen, die der Embryo allmählig annimmt,
ist zwar schon im Verlaufe der Erzählung von der Entwickelungsweise des Hühn-
chens an den geeigneten Stellen gesprochen. Es scheint mir aber bei der Wichtig-
keit des Gegenstandes und dem Interesse, welches man ihm besonders in neuerer
Zeit geschenkt hat, passend und nothwendig, jenem Verhältnisse eine besondere
Untersuchung zu widmen, da es mir etwas anders darstellt, als es nach der
herrschenden Meinung seyn sollte.

Um bei der Entwickelung meiner Ansicht verständlich zu werden und das,a. Die in-
dividuelle
Entwicke-
lung soll der
Reihe der
bleibenden
Thierformen
entsprechen.

was ihr wesentlich ist, schärfer hervorheben zu können, sey es erlaubt, zu-
vörderst die jetzt herrschende Vorstellungsweise von den Bildungsstufen des
Embryo zu beleuchten.

Wenige Darstellungen von Verhältnissen in der organischen Welt haben so
viel Beifall gefunden, als die: daſs die höheren Thierformen in den einzelnen
Stufen der Entwickelung des Individuums vom ersten Entstehen an bis zur erlangten
Ausbildung den bleibenden Formen in der Thierreihe entsprechen, und daſs die
Entwickelung der einzelnen Thiere nach denselben Gesetzen, wie die der ganzen
Thierreihe, erfolge, das höher organisirte Thier also in seiner individuellen Aus-
bildung dem Wesentlichen nach die unter ihm stehenden, bleibenden Stufen durch-
läuft, so daſs die periodischen Verschiedenheiten des Individuums sich auf die
Verschiedenheiten der bleibenden Thierformen zurückführen lassen.

Diese Idee, lebendig geworden zu einer Zeit, wo auſser von Malpighi
und Wolff noch keine zusammenhängenden Untersuchungen über die frühern
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[199/0229] Scholion V. Ueber das Verhältniſs der Formen, die das Individuum in den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung annimmt. §. 1. Die herrschende Vorstellung, daſs der Embryo höherer Thiere die bleibenden Formen der niederen Thiere durchlaufe. Ueber das Verhältniſs der Formen, die der Embryo allmählig annimmt, ist zwar schon im Verlaufe der Erzählung von der Entwickelungsweise des Hühn- chens an den geeigneten Stellen gesprochen. Es scheint mir aber bei der Wichtig- keit des Gegenstandes und dem Interesse, welches man ihm besonders in neuerer Zeit geschenkt hat, passend und nothwendig, jenem Verhältnisse eine besondere Untersuchung zu widmen, da es mir etwas anders darstellt, als es nach der herrschenden Meinung seyn sollte. Um bei der Entwickelung meiner Ansicht verständlich zu werden und das, was ihr wesentlich ist, schärfer hervorheben zu können, sey es erlaubt, zu- vörderst die jetzt herrschende Vorstellungsweise von den Bildungsstufen des Embryo zu beleuchten. a. Die in- dividuelle Entwicke- lung soll der Reihe der bleibenden Thierformen entsprechen. Wenige Darstellungen von Verhältnissen in der organischen Welt haben so viel Beifall gefunden, als die: daſs die höheren Thierformen in den einzelnen Stufen der Entwickelung des Individuums vom ersten Entstehen an bis zur erlangten Ausbildung den bleibenden Formen in der Thierreihe entsprechen, und daſs die Entwickelung der einzelnen Thiere nach denselben Gesetzen, wie die der ganzen Thierreihe, erfolge, das höher organisirte Thier also in seiner individuellen Aus- bildung dem Wesentlichen nach die unter ihm stehenden, bleibenden Stufen durch- läuft, so daſs die periodischen Verschiedenheiten des Individuums sich auf die Verschiedenheiten der bleibenden Thierformen zurückführen lassen. Diese Idee, lebendig geworden zu einer Zeit, wo auſser von Malpighi und Wolff noch keine zusammenhängenden Untersuchungen über die frühern Perioden der Entwickelungsgeschichte irgend eines Thiers angestellt waren und

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/229>, abgerufen am 28.04.2024.