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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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vorzüglich durchgeführt von einem Manne, der über die Entwickelungsgeschichte
der höheren Organismen wohl die meiste Kenntniss besass, konnte nicht umhin,
grosse Theilnahme zu erregen, da sie von einer Menge specieller Beweise unter-
stützt wurde. Sie gewann noch mehr Gewicht, da sie sich fruchtbar erwies,
indem eine Reihe Missbildungen verständlich wurden, wenn man sie als Folge
eines partiellen Stehenbleibens der Entwickelung auf früheren Bildungsstufen be-
trachtete. -- Kein Wunder also, dass sie mit Wärme aufgenommen und schärfer
durchgeführt wurde.

b, Folge-
rungen, die
man hierauf
gebaut hat.

Einige Vertheidiger wurden so eifrig, dass sie nicht mehr von Aehnlich-
keit, sondern von völliger Gleichheit sprachen, und thaten, als ob die Ueber-
einstimmung überall und in jeder Einzelnheit nachgewiesen wäre. Noch kürzlich
lasen wir in einer Schrift über den Blutlauf des Embryo, nicht Eine Thierform
lasse der Embryo des Menschen aus. Man lernte allmählig die verschiedenen
Thierformen als aus einander entwickelt sich denken -- und schien dann, von
einigen Seiten wenigstens, vergessen zu wollen, dass diese Metamorphose nur
eine Vorstellungsart sey. Unterstützt durch die Erfahrung, dass in den ältern
Schichten des Erdkörpers keine Reste von Wirbelthieren vorkommen, glaubte
man erweisen zu können, dass eine solche Umwandlung der verschiedenen Thier-
formen wirklich historisch begründet sey, und erzählte endlich ganz ernsthaft
und im Einzelnen, wie sie aus einander entstanden wären. Nichts war leichter.
Ein Fisch, der ans Land schwimmt, möchte dort gern spazieren gehn, wozu er
seine Flossen nicht gebrauchen kann. Sie verschrumpfen in der Breite aus
Mangel an Uebung und wachsen dagegen in die Länge. Das geht über auf Kinder
und Enkel einige Jahrtausende hindurch. Da ist es dann kein Wunder, dass aus
den Flossen zuletzt Füsse werden. Noch natürlicher ist es, dass der Fisch auf
der Wiese, da er kein Wasser findet, nach Luft schnappt. Dadurch treibt er
endlich in einer eben so langen Frist Lungen hervor, wozu nur erfordert wird,
dass einige Generationen sich unterdessen ohne Athmung behelfen. -- Der lange
Hals der Reiher rührt daher, dass ihre Stammeltern diesen Theil oft ausstreckten,
um Fische zu fangen. Die Jungen bekamen nun schon etwas ausgezogene Hälse
mit auf die Welt, und cultivirten dieselbe Unart, die ihren Nachkommen noch
längere Hälse gab, woraus denn zu hoffen ist, dass, wenn die Erde nur recht alt
wird, der Hals der Reiher gar nicht mehr zu messen seyn werde. -- Eine un-
vermeidliche Folge jener als Naturgesetz betrachteten Vorstellungsweise war die,
dass eine früher herrschende, seitdem ziemlich allgemein als unbegründet be-
trachtete Ansicht von der einreihigen Stufenfolge der verschiedenen Thierformen
allmählig wieder festern Fuss gewann, und wenn auch oft nicht deutlich aus-

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vorzüglich durchgeführt von einem Manne, der über die Entwickelungsgeschichte
der höheren Organismen wohl die meiste Kenntniſs besaſs, konnte nicht umhin,
groſse Theilnahme zu erregen, da sie von einer Menge specieller Beweise unter-
stützt wurde. Sie gewann noch mehr Gewicht, da sie sich fruchtbar erwies,
indem eine Reihe Miſsbildungen verständlich wurden, wenn man sie als Folge
eines partiellen Stehenbleibens der Entwickelung auf früheren Bildungsstufen be-
trachtete. — Kein Wunder also, daſs sie mit Wärme aufgenommen und schärfer
durchgeführt wurde.

b, Folge-
rungen, die
man hierauf
gebaut hat.

Einige Vertheidiger wurden so eifrig, daſs sie nicht mehr von Aehnlich-
keit, sondern von völliger Gleichheit sprachen, und thaten, als ob die Ueber-
einstimmung überall und in jeder Einzelnheit nachgewiesen wäre. Noch kürzlich
lasen wir in einer Schrift über den Blutlauf des Embryo, nicht Eine Thierform
lasse der Embryo des Menschen aus. Man lernte allmählig die verschiedenen
Thierformen als aus einander entwickelt sich denken — und schien dann, von
einigen Seiten wenigstens, vergessen zu wollen, daſs diese Metamorphose nur
eine Vorstellungsart sey. Unterstützt durch die Erfahrung, daſs in den ältern
Schichten des Erdkörpers keine Reste von Wirbelthieren vorkommen, glaubte
man erweisen zu können, daſs eine solche Umwandlung der verschiedenen Thier-
formen wirklich historisch begründet sey, und erzählte endlich ganz ernsthaft
und im Einzelnen, wie sie aus einander entstanden wären. Nichts war leichter.
Ein Fisch, der ans Land schwimmt, möchte dort gern spazieren gehn, wozu er
seine Flossen nicht gebrauchen kann. Sie verschrumpfen in der Breite aus
Mangel an Uebung und wachsen dagegen in die Länge. Das geht über auf Kinder
und Enkel einige Jahrtausende hindurch. Da ist es dann kein Wunder, daſs aus
den Flossen zuletzt Füſse werden. Noch natürlicher ist es, daſs der Fisch auf
der Wiese, da er kein Wasser findet, nach Luft schnappt. Dadurch treibt er
endlich in einer eben so langen Frist Lungen hervor, wozu nur erfordert wird,
daſs einige Generationen sich unterdessen ohne Athmung behelfen. — Der lange
Hals der Reiher rührt daher, daſs ihre Stammeltern diesen Theil oft ausstreckten,
um Fische zu fangen. Die Jungen bekamen nun schon etwas ausgezogene Hälse
mit auf die Welt, und cultivirten dieselbe Unart, die ihren Nachkommen noch
längere Hälse gab, woraus denn zu hoffen ist, daſs, wenn die Erde nur recht alt
wird, der Hals der Reiher gar nicht mehr zu messen seyn werde. — Eine un-
vermeidliche Folge jener als Naturgesetz betrachteten Vorstellungsweise war die,
daſs eine früher herrschende, seitdem ziemlich allgemein als unbegründet be-
trachtete Ansicht von der einreihigen Stufenfolge der verschiedenen Thierformen
allmählig wieder festern Fuſs gewann, und wenn auch oft nicht deutlich aus-

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[200/0230] vorzüglich durchgeführt von einem Manne, der über die Entwickelungsgeschichte der höheren Organismen wohl die meiste Kenntniſs besaſs, konnte nicht umhin, groſse Theilnahme zu erregen, da sie von einer Menge specieller Beweise unter- stützt wurde. Sie gewann noch mehr Gewicht, da sie sich fruchtbar erwies, indem eine Reihe Miſsbildungen verständlich wurden, wenn man sie als Folge eines partiellen Stehenbleibens der Entwickelung auf früheren Bildungsstufen be- trachtete. — Kein Wunder also, daſs sie mit Wärme aufgenommen und schärfer durchgeführt wurde. Einige Vertheidiger wurden so eifrig, daſs sie nicht mehr von Aehnlich- keit, sondern von völliger Gleichheit sprachen, und thaten, als ob die Ueber- einstimmung überall und in jeder Einzelnheit nachgewiesen wäre. Noch kürzlich lasen wir in einer Schrift über den Blutlauf des Embryo, nicht Eine Thierform lasse der Embryo des Menschen aus. Man lernte allmählig die verschiedenen Thierformen als aus einander entwickelt sich denken — und schien dann, von einigen Seiten wenigstens, vergessen zu wollen, daſs diese Metamorphose nur eine Vorstellungsart sey. Unterstützt durch die Erfahrung, daſs in den ältern Schichten des Erdkörpers keine Reste von Wirbelthieren vorkommen, glaubte man erweisen zu können, daſs eine solche Umwandlung der verschiedenen Thier- formen wirklich historisch begründet sey, und erzählte endlich ganz ernsthaft und im Einzelnen, wie sie aus einander entstanden wären. Nichts war leichter. Ein Fisch, der ans Land schwimmt, möchte dort gern spazieren gehn, wozu er seine Flossen nicht gebrauchen kann. Sie verschrumpfen in der Breite aus Mangel an Uebung und wachsen dagegen in die Länge. Das geht über auf Kinder und Enkel einige Jahrtausende hindurch. Da ist es dann kein Wunder, daſs aus den Flossen zuletzt Füſse werden. Noch natürlicher ist es, daſs der Fisch auf der Wiese, da er kein Wasser findet, nach Luft schnappt. Dadurch treibt er endlich in einer eben so langen Frist Lungen hervor, wozu nur erfordert wird, daſs einige Generationen sich unterdessen ohne Athmung behelfen. — Der lange Hals der Reiher rührt daher, daſs ihre Stammeltern diesen Theil oft ausstreckten, um Fische zu fangen. Die Jungen bekamen nun schon etwas ausgezogene Hälse mit auf die Welt, und cultivirten dieselbe Unart, die ihren Nachkommen noch längere Hälse gab, woraus denn zu hoffen ist, daſs, wenn die Erde nur recht alt wird, der Hals der Reiher gar nicht mehr zu messen seyn werde. — Eine un- vermeidliche Folge jener als Naturgesetz betrachteten Vorstellungsweise war die, daſs eine früher herrschende, seitdem ziemlich allgemein als unbegründet be- trachtete Ansicht von der einreihigen Stufenfolge der verschiedenen Thierformen allmählig wieder festern Fuſs gewann, und wenn auch oft nicht deutlich aus- ge-

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/230>, abgerufen am 21.11.2024.