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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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gesprochen, ja selbst ohne Bewusstseyn der Forscher bei Urtheilen über thierische
Formen in Anwendung kam. Auch muss man gestehen, dass, wenn jenes Natur-
gesetz angenommen wurde, die Consequenz ebenfalls die Aufnahme dieser Ansicht
forderte. Man hatte dann nur Einen Weg der Metamorphose, den der fernern
Ausbildung, entweder erreicht in Einem Individuum (die individuelle Meta-
morphose),
oder durch die verschiedenen Thierformen (die Metamorphose des
Thierreiches),
und die Krankheit durfte man geradezu eine rückschreitende Meta-
morphose
nennen, weil eine einreihige Metamorphose wie eine Eisenbahn nur
vorwärts oder rückwärts gehen lässt, nicht zur Seite.

Von solchen, einer unbefangenen Untersuchung und genauern Kenntniss
widersprechenden Anwendungen hielten sich zwar die Besonnenern und vor allen
Dingen derjenige Vertheidiger des Gesetzes frei, durch dessen Namen es am
meisten Ansehen erhielt, aber man darf nicht läugnen, dass sie folgerecht aus
dem Gesetze hervorgingen und dass schon dadurch Misstrauen erregt werden
musste *). Allein die Angriffe der Widersacher waren zum Theil nur auf die

*) Es schien hier nicht passend, irgend eine bestimmte Darstellung dieser Theorie wieder zu
geben, um dann ihre Widerlegung zu versuchen. Da sich ein gewisser Widerspruch in der
Natur bemerklich genug machte, so sind die Ausführungen durch verschiedene Männer sehr
verschieden ausgefallen. Immer waren diejenigen, denen am meisten specielle Kenntnisse
zu Gebote standen, vorsichtiger und unbestimmter, während diejenigen, die ihnen folgten,
viel bestimmter auftraten. Mir scheint die ganze Lehre mehr eine Entwickelungsstufe der
Naturwissenschaft, als das Eigenthum eines einzelnen Mannes. Man erkannte den ver-
schiedenen Grad der Ausbildung in den verschiedenen Thierformen. Man lernte einsehen,
dass diese Thierformen als Modificationen von einander zu betrachten sind. Es war natürlich,
ja nothwendig, dass man nun versuchte, die einfachste Form dieser Modificationen durch-
zuführen, die der unmittelbaren Entwickelung aller Formen aus einer. Diese Entwickelung
nun als historisch begründet anzunehmen, ist nur als ein kleiner Schritt weiter zu betrachten,
zu welchem die Consequenz führen musste. Eine Vergleichung mit der individuellen Ent-
wickelung gehörte dann nothwendig in denselben Ideenkreis, und es ist auf jeden Fall ein
Verdienst, den Versuch zu machen, wie weit sich die Kenntniss der Entwickelungsgeschichte
in denselben einführen lässt.
In der Ueberzeugung, dass die ganze Ansicht in ihrem vollen Umfange eine noth-
wendige Durchgangsbildung unserer naturhistorischen Kenntnisse ist, schien es nicht noth-
wendig, in der oben gegebenen kurzen Darstellung genau chronologisch zu verfahren.
Manche der angedeuteten Versuche, die Thierklassen als aus einander entstanden darzu-
zustellen, sind älter, als die bedeutendern Versuche, die Entwickelungsstufen des Embryo auf
die Klassenverschiedenheiten zurückzuführen. Das weiss ich sehr wohl und ich erwarte in
dieser Hinsicht keine Vorwürfe. Ich wählte nur die kürzeste Darstellung. Der ganze Kreis
von Vorstellungen, die ich hier genauer zu bestimmen hoffe, indem ich auf den Unterschied
zwischen der höhern und niedern Stufe der Ausbildung des thierischen Körpers und dem
Typus der Organisation aufmerksam mache, greift so vielseitig in alle Untersuchungen ein,
dass man in einer überaus grossen Zahl von Werken auf ihn stösst, weshalb es ganz unwesent-
lich ist, eine einzelne herauszuheben.
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gesprochen, ja selbst ohne Bewuſstseyn der Forscher bei Urtheilen über thierische
Formen in Anwendung kam. Auch muſs man gestehen, daſs, wenn jenes Natur-
gesetz angenommen wurde, die Consequenz ebenfalls die Aufnahme dieser Ansicht
forderte. Man hatte dann nur Einen Weg der Metamorphose, den der fernern
Ausbildung, entweder erreicht in Einem Individuum (die individuelle Meta-
morphose),
oder durch die verschiedenen Thierformen (die Metamorphose des
Thierreiches),
und die Krankheit durfte man geradezu eine rückschreitende Meta-
morphose
nennen, weil eine einreihige Metamorphose wie eine Eisenbahn nur
vorwärts oder rückwärts gehen läſst, nicht zur Seite.

Von solchen, einer unbefangenen Untersuchung und genauern Kenntniſs
widersprechenden Anwendungen hielten sich zwar die Besonnenern und vor allen
Dingen derjenige Vertheidiger des Gesetzes frei, durch dessen Namen es am
meisten Ansehen erhielt, aber man darf nicht läugnen, daſs sie folgerecht aus
dem Gesetze hervorgingen und daſs schon dadurch Miſstrauen erregt werden
muſste *). Allein die Angriffe der Widersacher waren zum Theil nur auf die

*) Es schien hier nicht passend, irgend eine bestimmte Darstellung dieser Theorie wieder zu
geben, um dann ihre Widerlegung zu versuchen. Da sich ein gewisser Widerspruch in der
Natur bemerklich genug machte, so sind die Ausführungen durch verschiedene Männer sehr
verschieden ausgefallen. Immer waren diejenigen, denen am meisten specielle Kenntnisse
zu Gebote standen, vorsichtiger und unbestimmter, während diejenigen, die ihnen folgten,
viel bestimmter auftraten. Mir scheint die ganze Lehre mehr eine Entwickelungsstufe der
Naturwissenschaft, als das Eigenthum eines einzelnen Mannes. Man erkannte den ver-
schiedenen Grad der Ausbildung in den verschiedenen Thierformen. Man lernte einsehen,
daſs diese Thierformen als Modificationen von einander zu betrachten sind. Es war natürlich,
ja nothwendig, daſs man nun versuchte, die einfachste Form dieser Modificationen durch-
zuführen, die der unmittelbaren Entwickelung aller Formen aus einer. Diese Entwickelung
nun als historisch begründet anzunehmen, ist nur als ein kleiner Schritt weiter zu betrachten,
zu welchem die Consequenz führen muſste. Eine Vergleichung mit der individuellen Ent-
wickelung gehörte dann nothwendig in denselben Ideenkreis, und es ist auf jeden Fall ein
Verdienst, den Versuch zu machen, wie weit sich die Kenntniſs der Entwickelungsgeschichte
in denselben einführen läſst.
In der Ueberzeugung, daſs die ganze Ansicht in ihrem vollen Umfange eine noth-
wendige Durchgangsbildung unserer naturhistorischen Kenntnisse ist, schien es nicht noth-
wendig, in der oben gegebenen kurzen Darstellung genau chronologisch zu verfahren.
Manche der angedeuteten Versuche, die Thierklassen als aus einander entstanden darzu-
zustellen, sind älter, als die bedeutendern Versuche, die Entwickelungsstufen des Embryo auf
die Klassenverschiedenheiten zurückzuführen. Das weiſs ich sehr wohl und ich erwarte in
dieser Hinsicht keine Vorwürfe. Ich wählte nur die kürzeste Darstellung. Der ganze Kreis
von Vorstellungen, die ich hier genauer zu bestimmen hoffe, indem ich auf den Unterschied
zwischen der höhern und niedern Stufe der Ausbildung des thierischen Körpers und dem
Typus der Organisation aufmerksam mache, greift so vielseitig in alle Untersuchungen ein,
daſs man in einer überaus groſsen Zahl von Werken auf ihn stöſst, weshalb es ganz unwesent-
lich ist, eine einzelne herauszuheben.
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[201/0231] gesprochen, ja selbst ohne Bewuſstseyn der Forscher bei Urtheilen über thierische Formen in Anwendung kam. Auch muſs man gestehen, daſs, wenn jenes Natur- gesetz angenommen wurde, die Consequenz ebenfalls die Aufnahme dieser Ansicht forderte. Man hatte dann nur Einen Weg der Metamorphose, den der fernern Ausbildung, entweder erreicht in Einem Individuum (die individuelle Meta- morphose), oder durch die verschiedenen Thierformen (die Metamorphose des Thierreiches), und die Krankheit durfte man geradezu eine rückschreitende Meta- morphose nennen, weil eine einreihige Metamorphose wie eine Eisenbahn nur vorwärts oder rückwärts gehen läſst, nicht zur Seite. Von solchen, einer unbefangenen Untersuchung und genauern Kenntniſs widersprechenden Anwendungen hielten sich zwar die Besonnenern und vor allen Dingen derjenige Vertheidiger des Gesetzes frei, durch dessen Namen es am meisten Ansehen erhielt, aber man darf nicht läugnen, daſs sie folgerecht aus dem Gesetze hervorgingen und daſs schon dadurch Miſstrauen erregt werden muſste *). Allein die Angriffe der Widersacher waren zum Theil nur auf die *) Es schien hier nicht passend, irgend eine bestimmte Darstellung dieser Theorie wieder zu geben, um dann ihre Widerlegung zu versuchen. Da sich ein gewisser Widerspruch in der Natur bemerklich genug machte, so sind die Ausführungen durch verschiedene Männer sehr verschieden ausgefallen. Immer waren diejenigen, denen am meisten specielle Kenntnisse zu Gebote standen, vorsichtiger und unbestimmter, während diejenigen, die ihnen folgten, viel bestimmter auftraten. Mir scheint die ganze Lehre mehr eine Entwickelungsstufe der Naturwissenschaft, als das Eigenthum eines einzelnen Mannes. Man erkannte den ver- schiedenen Grad der Ausbildung in den verschiedenen Thierformen. Man lernte einsehen, daſs diese Thierformen als Modificationen von einander zu betrachten sind. Es war natürlich, ja nothwendig, daſs man nun versuchte, die einfachste Form dieser Modificationen durch- zuführen, die der unmittelbaren Entwickelung aller Formen aus einer. Diese Entwickelung nun als historisch begründet anzunehmen, ist nur als ein kleiner Schritt weiter zu betrachten, zu welchem die Consequenz führen muſste. Eine Vergleichung mit der individuellen Ent- wickelung gehörte dann nothwendig in denselben Ideenkreis, und es ist auf jeden Fall ein Verdienst, den Versuch zu machen, wie weit sich die Kenntniſs der Entwickelungsgeschichte in denselben einführen läſst. In der Ueberzeugung, daſs die ganze Ansicht in ihrem vollen Umfange eine noth- wendige Durchgangsbildung unserer naturhistorischen Kenntnisse ist, schien es nicht noth- wendig, in der oben gegebenen kurzen Darstellung genau chronologisch zu verfahren. Manche der angedeuteten Versuche, die Thierklassen als aus einander entstanden darzu- zustellen, sind älter, als die bedeutendern Versuche, die Entwickelungsstufen des Embryo auf die Klassenverschiedenheiten zurückzuführen. Das weiſs ich sehr wohl und ich erwarte in dieser Hinsicht keine Vorwürfe. Ich wählte nur die kürzeste Darstellung. Der ganze Kreis von Vorstellungen, die ich hier genauer zu bestimmen hoffe, indem ich auf den Unterschied zwischen der höhern und niedern Stufe der Ausbildung des thierischen Körpers und dem Typus der Organisation aufmerksam mache, greift so vielseitig in alle Untersuchungen ein, daſs man in einer überaus groſsen Zahl von Werken auf ihn stöſst, weshalb es ganz unwesent- lich ist, eine einzelne herauszuheben. C c

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/231>, abgerufen am 28.04.2024.