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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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ist ebenfalls aus einem Lamm ein Wolf geworden, und da
er demnach eine Friedrich-Natur ist, mag sein Buch über
den preussischen König 121) mancherlei Aufschlüsse bieten.

Ein Kuriosum ereignet sich: Preussen verteidigt die
"Freiheit Europas"! Friedrich behauptet, "die Sache des
Protestantismus und der deutschen Freiheit vor den Unter-
drückungsgelüsten des Wiener Hofes zu schirmen" 122)! In
wiederholten Denkschriften an den englischen Hof wirft
er sogar die Frage auf: "Ob Deutschland und der Prote-
stantismus weiter bestehen werden? Ob das Menschen-
geschlecht den Gedanken der Freiheit behalten wird" 123)?
Es ist die Antizipation des famosen "Kulturkampfes", den
Bismarck später führt. Er hat jetzt entdeckt, dass er "gewisser-
massen Papst der Lutheraner und geistiges Oberhaupt der
Reformierten" ist, und schickt französische Jesuiten nach
Schlesien, um die österreichischen Jesuiten zu bekämpfen 124).
Eine früheste Probe "praktischen Christentums"! Und da
er nicht nur Apologet, sondern auch Philosoph ist, bemüht
er den Herzog von Choiseul, den Grafen von Struensee
und Sokrates zu einem "Totengespräch", um sich aphoristisch
einer Weisheit zu begeben, die ebenfalls preussischer Tra-
dition Ehre macht: "Staatsstreiche sind keine Verbrechen,
und alles, was Ruhm bringt, ist gross" 125).

Im Jahre 1780 aber erscheint bei I. G. Decker in
Berlin ein Pamphlet "De la literature allemande", das nur
Mehring meines Wissens genügend würdigte 126), und das
doch verderblichste Folgen hatte. Friedrichs offensichtliche
Absicht war, ehe er zur Gründung des Fürstenbunds schritt,
der vorlauten Literatur der Stürmer und Dränger gewaltig
über den Mund zu fahren. Goethes "Goetz", "Stella" und
"Werther" lagen vor. Schillers "Räuber", Lessings "Miss
Sarah Sampson" waren erschienen und wirkten für ein
selbstbewusstes Bürgertum. Das konnte gefährlich werden.
Dem musste begegnet werden.

Friedrichs Pamphlet hatte Prinzipien und eine Geschmak.

ist ebenfalls aus einem Lamm ein Wolf geworden, und da
er demnach eine Friedrich-Natur ist, mag sein Buch über
den preussischen König 121) mancherlei Aufschlüsse bieten.

Ein Kuriosum ereignet sich: Preussen verteidigt die
„Freiheit Europas“! Friedrich behauptet, „die Sache des
Protestantismus und der deutschen Freiheit vor den Unter-
drückungsgelüsten des Wiener Hofes zu schirmen“ 122)! In
wiederholten Denkschriften an den englischen Hof wirft
er sogar die Frage auf: „Ob Deutschland und der Prote-
stantismus weiter bestehen werden? Ob das Menschen-
geschlecht den Gedanken der Freiheit behalten wird“ 123)?
Es ist die Antizipation des famosen „Kulturkampfes“, den
Bismarck später führt. Er hat jetzt entdeckt, dass er „gewisser-
massen Papst der Lutheraner und geistiges Oberhaupt der
Reformierten“ ist, und schickt französische Jesuiten nach
Schlesien, um die österreichischen Jesuiten zu bekämpfen 124).
Eine früheste Probe „praktischen Christentums“! Und da
er nicht nur Apologet, sondern auch Philosoph ist, bemüht
er den Herzog von Choiseul, den Grafen von Struensee
und Sokrates zu einem „Totengespräch“, um sich aphoristisch
einer Weisheit zu begeben, die ebenfalls preussischer Tra-
dition Ehre macht: „Staatsstreiche sind keine Verbrechen,
und alles, was Ruhm bringt, ist gross“ 125).

Im Jahre 1780 aber erscheint bei I. G. Decker in
Berlin ein Pamphlet „De la litérature allemande“, das nur
Mehring meines Wissens genügend würdigte 126), und das
doch verderblichste Folgen hatte. Friedrichs offensichtliche
Absicht war, ehe er zur Gründung des Fürstenbunds schritt,
der vorlauten Literatur der Stürmer und Dränger gewaltig
über den Mund zu fahren. Goethes „Goetz“, „Stella“ und
„Werther“ lagen vor. Schillers „Räuber“, Lessings „Miss
Sarah Sampson“ waren erschienen und wirkten für ein
selbstbewusstes Bürgertum. Das konnte gefährlich werden.
Dem musste begegnet werden.

Friedrichs Pamphlet hatte Prinzipien und eine Geschmak.

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[98/0106] ist ebenfalls aus einem Lamm ein Wolf geworden, und da er demnach eine Friedrich-Natur ist, mag sein Buch über den preussischen König ¹²¹⁾ mancherlei Aufschlüsse bieten. Ein Kuriosum ereignet sich: Preussen verteidigt die „Freiheit Europas“! Friedrich behauptet, „die Sache des Protestantismus und der deutschen Freiheit vor den Unter- drückungsgelüsten des Wiener Hofes zu schirmen“ ¹²²⁾ ! In wiederholten Denkschriften an den englischen Hof wirft er sogar die Frage auf: „Ob Deutschland und der Prote- stantismus weiter bestehen werden? Ob das Menschen- geschlecht den Gedanken der Freiheit behalten wird“ ¹²³⁾ ? Es ist die Antizipation des famosen „Kulturkampfes“, den Bismarck später führt. Er hat jetzt entdeckt, dass er „gewisser- massen Papst der Lutheraner und geistiges Oberhaupt der Reformierten“ ist, und schickt französische Jesuiten nach Schlesien, um die österreichischen Jesuiten zu bekämpfen ¹²⁴⁾ . Eine früheste Probe „praktischen Christentums“! Und da er nicht nur Apologet, sondern auch Philosoph ist, bemüht er den Herzog von Choiseul, den Grafen von Struensee und Sokrates zu einem „Totengespräch“, um sich aphoristisch einer Weisheit zu begeben, die ebenfalls preussischer Tra- dition Ehre macht: „Staatsstreiche sind keine Verbrechen, und alles, was Ruhm bringt, ist gross“ ¹²⁵⁾ . Im Jahre 1780 aber erscheint bei I. G. Decker in Berlin ein Pamphlet „De la litérature allemande“, das nur Mehring meines Wissens genügend würdigte ¹²⁶⁾ , und das doch verderblichste Folgen hatte. Friedrichs offensichtliche Absicht war, ehe er zur Gründung des Fürstenbunds schritt, der vorlauten Literatur der Stürmer und Dränger gewaltig über den Mund zu fahren. Goethes „Goetz“, „Stella“ und „Werther“ lagen vor. Schillers „Räuber“, Lessings „Miss Sarah Sampson“ waren erschienen und wirkten für ein selbstbewusstes Bürgertum. Das konnte gefährlich werden. Dem musste begegnet werden. Friedrichs Pamphlet hatte Prinzipien und eine Geschmak.

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/106>, abgerufen am 27.11.2024.