Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

Menschen, Geschöpfe derselben Mutter, durch Sonne,
Mond und Sterne mit uns verwandt, kriechen mit hängenden
Eingeweiden und zerrissenen Gliedern in wirrem Leichen-
haufen, fressen spärliches Gras in Gefangenenlagern, verenden
in Angst, Qual und Tortur verkoteter Gräben, Gefängnisse
und Transporte. Ist es nicht an der Zeit, ihr meine Brüder,
den Streit in die Heimat zu tragen statt in das "Feindes-
land"? Keinen Rücksichten mehr zu folgen als denen der
Wahrheit und Gerechtigkeit?

Dieses Buch handelt von Freiheit und Heiligung;
von den Prinzipien jener Heroen, denen die Wohlfahrt
des deutschen Volkes identisch war oder hätte identisch
sein müssen mit dem Wohle der Welt. Im Konvent von
1793 trat ein Deutscher auf namens Cloots und sprach:
"Ich kämpfte mein Leben lang gegen die Herren der Erde
und des Himmels. Es gibt nur einen Gott, die Natur, nur
einen Herrn, das Menschengeschlecht, das göttliche Volk,
durch die Vernunft zur allgemeinen Republik vereinigt.
Ich stehe auf der Tribüne des Universums, ich wiederhole,
das menschliche Geschlecht ist Gott, -- le Peuple Dieu"! 1) Darüber lässt sich sprechen. Er träumte von einer Liga
aller Menschen, in der die Nationen aufgehen sollten; er
schlug den Franzosen vor, sich nicht mehr "Francais",
sondern "Universel" zu nennen, und er war nicht einmal
ein Agent provocateur, sondern Präsident des Jacobinerklubs.
Schäbige Schreiberseelen, die sich seine Landsleute nennen,
höhnten von diesem Vorkämpfer einer deutschen Zukunft,
dass der Deutsche, wenn er verrückt wird, alle anderen
Nationen an Verrücktheit überbietet, aber das ändert nichts
an der Tatsache, dass im Paris von 1793 vielleicht niemand
die Universalität der grossen französischen Revolution stärker
geahnt und empfunden hat als er.

Die intellektuellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts sind
die Exegese der grossen französischen Revolution von
1789 und 1793. Das Prinzip der Freiheit, das in den Zeiten

Menschen, Geschöpfe derselben Mutter, durch Sonne,
Mond und Sterne mit uns verwandt, kriechen mit hängenden
Eingeweiden und zerrissenen Gliedern in wirrem Leichen-
haufen, fressen spärliches Gras in Gefangenenlagern, verenden
in Angst, Qual und Tortur verkoteter Gräben, Gefängnisse
und Transporte. Ist es nicht an der Zeit, ihr meine Brüder,
den Streit in die Heimat zu tragen statt in das „Feindes-
land“? Keinen Rücksichten mehr zu folgen als denen der
Wahrheit und Gerechtigkeit?

Dieses Buch handelt von Freiheit und Heiligung;
von den Prinzipien jener Heroen, denen die Wohlfahrt
des deutschen Volkes identisch war oder hätte identisch
sein müssen mit dem Wohle der Welt. Im Konvent von
1793 trat ein Deutscher auf namens Cloots und sprach:
„Ich kämpfte mein Leben lang gegen die Herren der Erde
und des Himmels. Es gibt nur einen Gott, die Natur, nur
einen Herrn, das Menschengeschlecht, das göttliche Volk,
durch die Vernunft zur allgemeinen Republik vereinigt.
Ich stehe auf der Tribüne des Universums, ich wiederhole,
das menschliche Geschlecht ist Gott, — le Peuple Dieu“! 1) Darüber lässt sich sprechen. Er träumte von einer Liga
aller Menschen, in der die Nationen aufgehen sollten; er
schlug den Franzosen vor, sich nicht mehr „Français“,
sondern „Universel“ zu nennen, und er war nicht einmal
ein Agent provocateur, sondern Präsident des Jacobinerklubs.
Schäbige Schreiberseelen, die sich seine Landsleute nennen,
höhnten von diesem Vorkämpfer einer deutschen Zukunft,
dass der Deutsche, wenn er verrückt wird, alle anderen
Nationen an Verrücktheit überbietet, aber das ändert nichts
an der Tatsache, dass im Paris von 1793 vielleicht niemand
die Universalität der grossen französischen Revolution stärker
geahnt und empfunden hat als er.

Die intellektuellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts sind
die Exegese der grossen französischen Revolution von
1789 und 1793. Das Prinzip der Freiheit, das in den Zeiten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0134" n="126"/>
          <p>Menschen, Geschöpfe derselben Mutter, durch Sonne,<lb/>
Mond und Sterne mit uns verwandt, kriechen mit hängenden<lb/>
Eingeweiden und zerrissenen Gliedern in wirrem Leichen-<lb/>
haufen, fressen spärliches Gras in Gefangenenlagern, verenden<lb/>
in Angst, Qual und Tortur verkoteter Gräben, Gefängnisse<lb/>
und Transporte. Ist es nicht an der Zeit, ihr meine Brüder,<lb/>
den Streit in die Heimat zu tragen statt in das &#x201E;Feindes-<lb/>
land&#x201C;? Keinen Rücksichten mehr zu folgen als denen der<lb/>
Wahrheit und Gerechtigkeit?</p><lb/>
          <p>Dieses Buch handelt von Freiheit und Heiligung;<lb/>
von den Prinzipien jener Heroen, denen die Wohlfahrt<lb/>
des deutschen Volkes identisch war oder hätte identisch<lb/>
sein müssen mit dem Wohle der Welt. Im Konvent von<lb/>
1793 trat ein Deutscher auf namens Cloots und sprach:<lb/>
&#x201E;Ich kämpfte mein Leben lang gegen die Herren der Erde<lb/>
und des Himmels. Es gibt nur einen Gott, die Natur, nur<lb/>
einen Herrn, das Menschengeschlecht, das göttliche Volk,<lb/>
durch die Vernunft zur allgemeinen Republik vereinigt.<lb/>
Ich stehe auf der Tribüne des Universums, ich wiederhole,<lb/>
das menschliche Geschlecht ist Gott, &#x2014; le Peuple Dieu&#x201C;! <note xml:id="id1c" next="id1c1c" place="end" n="1)"/><lb/>
Darüber lässt sich sprechen. Er träumte von einer Liga<lb/>
aller Menschen, in der die Nationen aufgehen sollten; er<lb/>
schlug den Franzosen vor, sich nicht mehr &#x201E;Français&#x201C;,<lb/>
sondern &#x201E;Universel&#x201C; zu nennen, und er war nicht einmal<lb/>
ein Agent provocateur, sondern Präsident des Jacobinerklubs.<lb/>
Schäbige Schreiberseelen, die sich seine Landsleute nennen,<lb/>
höhnten von diesem Vorkämpfer einer deutschen Zukunft,<lb/>
dass der Deutsche, wenn er verrückt wird, alle anderen<lb/>
Nationen an Verrücktheit überbietet, aber das ändert nichts<lb/>
an der Tatsache, dass im Paris von 1793 vielleicht niemand<lb/>
die Universalität der grossen französischen Revolution stärker<lb/>
geahnt und empfunden hat als er.</p><lb/>
          <p>Die intellektuellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts sind<lb/>
die Exegese der grossen französischen Revolution von<lb/>
1789 und 1793. Das Prinzip der Freiheit, das in den Zeiten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[126/0134] Menschen, Geschöpfe derselben Mutter, durch Sonne, Mond und Sterne mit uns verwandt, kriechen mit hängenden Eingeweiden und zerrissenen Gliedern in wirrem Leichen- haufen, fressen spärliches Gras in Gefangenenlagern, verenden in Angst, Qual und Tortur verkoteter Gräben, Gefängnisse und Transporte. Ist es nicht an der Zeit, ihr meine Brüder, den Streit in die Heimat zu tragen statt in das „Feindes- land“? Keinen Rücksichten mehr zu folgen als denen der Wahrheit und Gerechtigkeit? Dieses Buch handelt von Freiheit und Heiligung; von den Prinzipien jener Heroen, denen die Wohlfahrt des deutschen Volkes identisch war oder hätte identisch sein müssen mit dem Wohle der Welt. Im Konvent von 1793 trat ein Deutscher auf namens Cloots und sprach: „Ich kämpfte mein Leben lang gegen die Herren der Erde und des Himmels. Es gibt nur einen Gott, die Natur, nur einen Herrn, das Menschengeschlecht, das göttliche Volk, durch die Vernunft zur allgemeinen Republik vereinigt. Ich stehe auf der Tribüne des Universums, ich wiederhole, das menschliche Geschlecht ist Gott, — le Peuple Dieu“! ¹⁾ Darüber lässt sich sprechen. Er träumte von einer Liga aller Menschen, in der die Nationen aufgehen sollten; er schlug den Franzosen vor, sich nicht mehr „Français“, sondern „Universel“ zu nennen, und er war nicht einmal ein Agent provocateur, sondern Präsident des Jacobinerklubs. Schäbige Schreiberseelen, die sich seine Landsleute nennen, höhnten von diesem Vorkämpfer einer deutschen Zukunft, dass der Deutsche, wenn er verrückt wird, alle anderen Nationen an Verrücktheit überbietet, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass im Paris von 1793 vielleicht niemand die Universalität der grossen französischen Revolution stärker geahnt und empfunden hat als er. Die intellektuellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts sind die Exegese der grossen französischen Revolution von 1789 und 1793. Das Prinzip der Freiheit, das in den Zeiten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/134
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/134>, abgerufen am 23.11.2024.