Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

1914 sich verbunden fühlten, so schliesse man endlich
nicht mehr vom eigenen schlimmen Motiv auf das der
andern, sondern lese in Leon Bloys "Sueur du sang" jenes
Kapitel "Bismarck chez Louis XIV." nach, aus dem zu er-
sehen ist, dass das Volk der Bloy und d'Aurevilly 1871 nicht
anders die Preussen empfand als das Volk Leo Tolstois
1813 die übermenschlichen Franzosen. Bismarck erscheint
als "une combinaison de goinfre, de goujat et de sangui-
naire cafard qui deconcerte", und das Haus der Frau Com-
tesse de Jesse, das der Herr Kanzler bewohnte, wird mit
Säuren desinfiziert, nachdem der Herr Kanzler es wieder
verlassen hat 109).

6.

Es ist eine kaum genügend beachtete Tatsache, dass
dem System Bismarcks und seiner Nachfolger in Deutsch-
land kein ebenbürtiger Gegner erwuchs; kein Antipode und
Apologet überlegener Artung, der im Namen der Nation
protestierte und die geistige Macht besass, Bismarcks Argu-
mente zu entkräften, wenn nicht für diese, so für die nächste
Generation.

Dem Welfen Windthorst, Bismarcks stärkstem Gegner
im Parlament, gelang es zwar, den Eindruck zu erwecken,
"als wenn so ruchlose Leute in der Regierung unseres
Königs sässen, die den heidnischen Staat anstreben"; als
sei das Schulaufsichtsgesetz von 1872 "dazu bestimmt, das
Heidentum, einen Staat ohne Gott, bei uns einzuführen,
als seien der Herr Abgeordnete für Meppen (Windthorst)
und die Seinigen hier noch die alleinigen Verteidiger Got-
tes" 110). Aber Bismarck spielte den päpstlichen Anspruch
alleiniger Gnadenverwaltung gegen ihn aus, und es gelang
ihm damit, die "Heiterkeit" der lutheranischen Mehrheit auf
seine Seite zu bringen. Auch erklärte sich Windthorst ja
selbst für das "monarchisch-christliche Prinzip im Staate" 111),
und auf dieser Basis sank seine Opposition zur kirchlichen

1914 sich verbunden fühlten, so schliesse man endlich
nicht mehr vom eigenen schlimmen Motiv auf das der
andern, sondern lese in Léon Bloys „Sueur du sang“ jenes
Kapitel „Bismarck chez Louis XIV.“ nach, aus dem zu er-
sehen ist, dass das Volk der Bloy und d'Aurevilly 1871 nicht
anders die Preussen empfand als das Volk Leo Tolstois
1813 die übermenschlichen Franzosen. Bismarck erscheint
als „une combinaison de goinfre, de goujat et de sangui-
naire cafard qui déconcerte“, und das Haus der Frau Com-
tesse de Jessé, das der Herr Kanzler bewohnte, wird mit
Säuren desinfiziert, nachdem der Herr Kanzler es wieder
verlassen hat 109).

6.

Es ist eine kaum genügend beachtete Tatsache, dass
dem System Bismarcks und seiner Nachfolger in Deutsch-
land kein ebenbürtiger Gegner erwuchs; kein Antipode und
Apologet überlegener Artung, der im Namen der Nation
protestierte und die geistige Macht besass, Bismarcks Argu-
mente zu entkräften, wenn nicht für diese, so für die nächste
Generation.

Dem Welfen Windthorst, Bismarcks stärkstem Gegner
im Parlament, gelang es zwar, den Eindruck zu erwecken,
„als wenn so ruchlose Leute in der Regierung unseres
Königs sässen, die den heidnischen Staat anstreben“; als
sei das Schulaufsichtsgesetz von 1872 „dazu bestimmt, das
Heidentum, einen Staat ohne Gott, bei uns einzuführen,
als seien der Herr Abgeordnete für Meppen (Windthorst)
und die Seinigen hier noch die alleinigen Verteidiger Got-
tes“ 110). Aber Bismarck spielte den päpstlichen Anspruch
alleiniger Gnadenverwaltung gegen ihn aus, und es gelang
ihm damit, die „Heiterkeit“ der lutheranischen Mehrheit auf
seine Seite zu bringen. Auch erklärte sich Windthorst ja
selbst für das „monarchisch-christliche Prinzip im Staate“ 111),
und auf dieser Basis sank seine Opposition zur kirchlichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0228" n="220"/>
1914 sich verbunden fühlten, so schliesse man endlich<lb/>
nicht mehr vom eigenen schlimmen Motiv auf das der<lb/>
andern, sondern lese in Léon Bloys &#x201E;Sueur du sang&#x201C; jenes<lb/>
Kapitel &#x201E;Bismarck chez Louis XIV.&#x201C; nach, aus dem zu er-<lb/>
sehen ist, dass das Volk der Bloy und d'Aurevilly 1871 nicht<lb/>
anders die Preussen empfand als das Volk Leo Tolstois<lb/>
1813 die übermenschlichen Franzosen. Bismarck erscheint<lb/>
als &#x201E;une combinaison de goinfre, de goujat et de sangui-<lb/>
naire cafard qui déconcerte&#x201C;, und das Haus der Frau Com-<lb/>
tesse de Jessé, das der Herr Kanzler bewohnte, wird mit<lb/>
Säuren desinfiziert, nachdem der Herr Kanzler es wieder<lb/>
verlassen hat <note xml:id="id109d" next="id109d109d" place="end" n="109)"/>.</p><lb/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>6.</head><lb/>
          <p>Es ist eine kaum genügend beachtete Tatsache, dass<lb/>
dem System Bismarcks und seiner Nachfolger in Deutsch-<lb/>
land kein ebenbürtiger Gegner erwuchs; kein Antipode und<lb/>
Apologet überlegener Artung, der im Namen der Nation<lb/>
protestierte und die geistige Macht besass, Bismarcks Argu-<lb/>
mente zu entkräften, wenn nicht für diese, so für die nächste<lb/>
Generation.</p><lb/>
          <p>Dem Welfen Windthorst, Bismarcks stärkstem Gegner<lb/>
im Parlament, gelang es zwar, den Eindruck zu erwecken,<lb/>
&#x201E;als wenn so ruchlose Leute in der Regierung unseres<lb/>
Königs sässen, die den heidnischen Staat anstreben&#x201C;; als<lb/>
sei das Schulaufsichtsgesetz von 1872 &#x201E;dazu bestimmt, das<lb/>
Heidentum, einen Staat ohne Gott, bei uns einzuführen,<lb/>
als seien der Herr Abgeordnete für Meppen (Windthorst)<lb/>
und die Seinigen hier noch die alleinigen Verteidiger Got-<lb/>
tes&#x201C; <note xml:id="id110d" next="id110d110d" place="end" n="110)"/>. Aber Bismarck spielte den päpstlichen Anspruch<lb/>
alleiniger Gnadenverwaltung gegen ihn aus, und es gelang<lb/>
ihm damit, die &#x201E;Heiterkeit&#x201C; der lutheranischen Mehrheit auf<lb/>
seine Seite zu bringen. Auch erklärte sich Windthorst ja<lb/>
selbst für das &#x201E;monarchisch-christliche Prinzip im Staate&#x201C; <note xml:id="id111d" next="id111d111d" place="end" n="111)"/>,<lb/>
und auf dieser Basis sank seine Opposition zur kirchlichen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[220/0228] 1914 sich verbunden fühlten, so schliesse man endlich nicht mehr vom eigenen schlimmen Motiv auf das der andern, sondern lese in Léon Bloys „Sueur du sang“ jenes Kapitel „Bismarck chez Louis XIV.“ nach, aus dem zu er- sehen ist, dass das Volk der Bloy und d'Aurevilly 1871 nicht anders die Preussen empfand als das Volk Leo Tolstois 1813 die übermenschlichen Franzosen. Bismarck erscheint als „une combinaison de goinfre, de goujat et de sangui- naire cafard qui déconcerte“, und das Haus der Frau Com- tesse de Jessé, das der Herr Kanzler bewohnte, wird mit Säuren desinfiziert, nachdem der Herr Kanzler es wieder verlassen hat ¹⁰⁹⁾ . 6. Es ist eine kaum genügend beachtete Tatsache, dass dem System Bismarcks und seiner Nachfolger in Deutsch- land kein ebenbürtiger Gegner erwuchs; kein Antipode und Apologet überlegener Artung, der im Namen der Nation protestierte und die geistige Macht besass, Bismarcks Argu- mente zu entkräften, wenn nicht für diese, so für die nächste Generation. Dem Welfen Windthorst, Bismarcks stärkstem Gegner im Parlament, gelang es zwar, den Eindruck zu erwecken, „als wenn so ruchlose Leute in der Regierung unseres Königs sässen, die den heidnischen Staat anstreben“; als sei das Schulaufsichtsgesetz von 1872 „dazu bestimmt, das Heidentum, einen Staat ohne Gott, bei uns einzuführen, als seien der Herr Abgeordnete für Meppen (Windthorst) und die Seinigen hier noch die alleinigen Verteidiger Got- tes“ ¹¹⁰⁾ . Aber Bismarck spielte den päpstlichen Anspruch alleiniger Gnadenverwaltung gegen ihn aus, und es gelang ihm damit, die „Heiterkeit“ der lutheranischen Mehrheit auf seine Seite zu bringen. Auch erklärte sich Windthorst ja selbst für das „monarchisch-christliche Prinzip im Staate“ ¹¹¹⁾ , und auf dieser Basis sank seine Opposition zur kirchlichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/228
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/228>, abgerufen am 25.11.2024.