sammeln, ewige Richtungen, Gesetze, Imperative zu ersinnen. Vergeblich! Jede kritische Frage hatte sie sich gestellt, an Begriffen und Welt, an Gott und Dasein zweifeln gelernt, und dennoch war sie aus reiner Vernunft an der einfachsten Vorfrage blind vorüber geschritten: ob nämlich der denkende, messende, vergleichende Intellekt, die Kunst des Einmaleins und des Warum die einzige, dem ewigen Geiste verliehene Kraft sei und bleibe, um Menschengöttliches zu durchdringen. Sie blieb Intellektualphilosophie" 35).
Die Pseudologia phantastica, die man auf den Namen Kritizismus getauft hat, wurde von der lutheranischen Orthodoxie so unerbittlich gegängelt, dass sie im wichtigsten Stadium der intellektuellen Entwicklung Europas, vor Ausbruch der französischen Revolution, jeden Sinn für wahrhaft produktive Kritik und ideelles Eingreifen in die Ereignisse verloren hatte. "Herr Pastor", rief Lessing gereizt, "wenn Sie es dahin bringen, dass unsere lutherischen Pastores unsere Päpste werden; -- dass diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen; -- dass diese unserem Forschen Schranken setzen dürfen: so bin ich der Erste, der die Päpstchen wieder mit dem Papste vertauscht" 36).
Das ist es: man hatte den Papst mit den Päpstchen vertauscht, man hatte den grossen Blick, die all-einige Tradition und Universalität des Mittelalters verloren. Man war: protestantisch geworden, das heisst national und beschränkt. Den Kritizisten fiel es nicht ein, Luther zu analysieren, statt mit den Pastores zu raufen; sich an die Sachen zu halten, statt an die Begriffe. Die wilde Weisheit der Scholastik blieb verschollen. Die guten Werke und eine hohe philosophische Tradition waren von demselben Luther verworfen, dessen schmähliche Autorität vom wieder auflebenden Kreuzzüglergeiste alles heute zu fürchten hat. In unfruchtbarem Streit zwischen Glauben und Wissen, zwischen Katholik und Protestant verzehrten sich die Geister,
sammeln, ewige Richtungen, Gesetze, Imperative zu ersinnen. Vergeblich! Jede kritische Frage hatte sie sich gestellt, an Begriffen und Welt, an Gott und Dasein zweifeln gelernt, und dennoch war sie aus reiner Vernunft an der einfachsten Vorfrage blind vorüber geschritten: ob nämlich der denkende, messende, vergleichende Intellekt, die Kunst des Einmaleins und des Warum die einzige, dem ewigen Geiste verliehene Kraft sei und bleibe, um Menschengöttliches zu durchdringen. Sie blieb Intellektualphilosophie“ 35).
Die Pseudologia phantastica, die man auf den Namen Kritizismus getauft hat, wurde von der lutheranischen Orthodoxie so unerbittlich gegängelt, dass sie im wichtigsten Stadium der intellektuellen Entwicklung Europas, vor Ausbruch der französischen Revolution, jeden Sinn für wahrhaft produktive Kritik und ideelles Eingreifen in die Ereignisse verloren hatte. „Herr Pastor“, rief Lessing gereizt, „wenn Sie es dahin bringen, dass unsere lutherischen Pastores unsere Päpste werden; — dass diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen; — dass diese unserem Forschen Schranken setzen dürfen: so bin ich der Erste, der die Päpstchen wieder mit dem Papste vertauscht“ 36).
Das ist es: man hatte den Papst mit den Päpstchen vertauscht, man hatte den grossen Blick, die all-einige Tradition und Universalität des Mittelalters verloren. Man war: protestantisch geworden, das heisst national und beschränkt. Den Kritizisten fiel es nicht ein, Luther zu analysieren, statt mit den Pastores zu raufen; sich an die Sachen zu halten, statt an die Begriffe. Die wilde Weisheit der Scholastik blieb verschollen. Die guten Werke und eine hohe philosophische Tradition waren von demselben Luther verworfen, dessen schmähliche Autorität vom wieder auflebenden Kreuzzüglergeiste alles heute zu fürchten hat. In unfruchtbarem Streit zwischen Glauben und Wissen, zwischen Katholik und Protestant verzehrten sich die Geister,
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sammeln, ewige Richtungen, Gesetze, Imperative zu ersinnen.
Vergeblich! Jede kritische Frage hatte sie sich gestellt, an
Begriffen und Welt, an Gott und Dasein zweifeln gelernt,
und dennoch war sie aus reiner Vernunft an der einfachsten
Vorfrage blind vorüber geschritten: ob nämlich der denkende,
messende, vergleichende Intellekt, die Kunst des Einmaleins
und des Warum die einzige, dem ewigen Geiste verliehene
Kraft sei und bleibe, um Menschengöttliches zu durchdringen.
Sie blieb Intellektualphilosophie“
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Die Pseudologia phantastica, die man auf den Namen
Kritizismus getauft hat, wurde von der lutheranischen
Orthodoxie so unerbittlich gegängelt, dass sie im wichtigsten
Stadium der intellektuellen Entwicklung Europas, vor
Ausbruch der französischen Revolution, jeden Sinn für
wahrhaft produktive Kritik und ideelles Eingreifen in die
Ereignisse verloren hatte. „Herr Pastor“, rief Lessing gereizt,
„wenn Sie es dahin bringen, dass unsere lutherischen
Pastores unsere Päpste werden; — dass diese uns vorschreiben
können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen;
— dass diese unserem Forschen Schranken setzen dürfen:
so bin ich der Erste, der die Päpstchen wieder mit dem
Papste vertauscht“
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Das ist es: man hatte den Papst mit den Päpstchen
vertauscht, man hatte den grossen Blick, die all-einige
Tradition und Universalität des Mittelalters verloren. Man
war: protestantisch geworden, das heisst national und
beschränkt. Den Kritizisten fiel es nicht ein, Luther zu
analysieren, statt mit den Pastores zu raufen; sich an die
Sachen zu halten, statt an die Begriffe. Die wilde Weisheit
der Scholastik blieb verschollen. Die guten Werke und
eine hohe philosophische Tradition waren von demselben
Luther verworfen, dessen schmähliche Autorität vom wieder
auflebenden Kreuzzüglergeiste alles heute zu fürchten hat.
In unfruchtbarem Streit zwischen Glauben und Wissen,
zwischen Katholik und Protestant verzehrten sich die Geister,
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/74>, abgerufen am 29.11.2024.
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