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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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fassen, die erste Peripherie eine weit gezogene sein müssen, um auch für
die Unterabtheilungen noch gleichwerthige Seitenstücke zu finden. Wie
aber immer, ob so oder so, jedenfalls hat als unbedingter der Grundsatz
völliger Voraussetzungslosigkeit zu gelten, bei diesem ersten Beginn der
Forschung auf einem noch durchaus fremden Terrain. Zunächst kann keine
andere Aufgabe vorliegen, als die überall erste der Induction, die erste
und für wissenschaftlich gesicherten Aufbau unumgängliche: das thatsäch-
liche Material zu sammeln und deutlich vor Augen zu stellen. Dann frisch
hinein an die Arbeit, und in der Arbeit selbst wird aus harmonischen
Verwandtschaftsgesetzen sich klären, was wir arbeiten, und wozu? Aus
der Natur selbst werden sich die gestellten Fragen so beantworten, wie
sie der, mit den aus eigener Qual erzwungenen Deutungen nicht länger
befriedigte, Geist schon seit lange ersehnte.
4) "The tone of thought common among us, all our hopes, fears and
speculations would be materially affected, if we had vividly before us
the relation of the progressive races to the totality of human life", denn
unsere Civilisation (of Western Europe) "is a rare exception in the history
of the world" (s. Maine). Und im unaufhaltsam gesteigerten Wachsen der
Incongruenz findet sich die Ausnahme auf dem Weg zur Regel.
5) Eine theoretische Ansicht in der Naturwissenschaft ist niemals an
sich selbst wahr, sie ist nur wahr für die Zeit, in der sie sich geltend
macht (Liebig), so lange sie sich mit der Kenntniss der Thatsachen deckt,
diese eben deckend.
6) Und so auch für naturwissenschaftliche Psychologie keine Hülfe,
noch Aussicht ohne vorheriges Sammeln, was trotz aller Einwendungen
verehrlicher Kritiker nun einmal nicht erspart werden kann, und gerade in
der Ethnologie dringendster Noth sich am dringendsten aufdrängt. So
drängend, dass kein Drängen im Uebermaass der Hyperbeln schaden kann,
und es deshalb auch gerne hinzunehmen, wenn ad verbum und ad literam
genommen, im Staunen der durch Eulenspiegeleien gleichsam Genarrten über
das Aufhäufen psychischer "Rohstoffe", für sicannische oder madegassische
Seelenflicker etwa brauchbar. Wer in den Tabulae Petri Mosellani de schema-
tibus et tropis den Index figurarum (auf 4 Seiten) zu lang findet, möge beachten,
dass "die Allegorie von dem wörtlichen Ausdrucke, ihrer Natur nach, weit ent-
fernt sein kann", so dass die Erklärung nicht immer "gegeben, sondern oft
dem eigenen Nachdenken des Lesers überlassen werden" (Blair), statt "s'attacher
servilement au sens litteral des mots" (s. Quitard). Allegoria autem ad
multiplices ambiguitates se extendit (Camerarius), und so ist Manches in
den Kauf zu nehmen, ohne volles Recht darüber zu klagen. Die für eine
psychologische Naturwissenschaft vielfach aus den chemischen herange-
zogenen Vergleiche hätten indess darauf führen mögen, dass die in der
Ethnologie gesammelten "Rohstoffe" um so unbekümmerter (wenn die Noth
fassen, die erste Peripherie eine weit gezogene sein müssen, um auch für
die Unterabtheilungen noch gleichwerthige Seitenstücke zu finden. Wie
aber immer, ob so oder so, jedenfalls hat als unbedingter der Grundsatz
völliger Voraussetzungslosigkeit zu gelten, bei diesem ersten Beginn der
Forschung auf einem noch durchaus fremden Terrain. Zunächst kann keine
andere Aufgabe vorliegen, als die überall erste der Induction, die erste
und für wissenschaftlich gesicherten Aufbau unumgängliche: das thatsäch-
liche Material zu sammeln und deutlich vor Augen zu stellen. Dann frisch
hinein an die Arbeit, und in der Arbeit selbst wird aus harmonischen
Verwandtschaftsgesetzen sich klären, was wir arbeiten, und wozu? Aus
der Natur selbst werden sich die gestellten Fragen so beantworten, wie
sie der, mit den aus eigener Qual erzwungenen Deutungen nicht länger
befriedigte, Geist schon seit lange ersehnte.
4) „The tone of thought common among us, all our hopes, fears and
speculations would be materially affected, if we had vividly before us
the relation of the progressive races to the totality of human life“, denn
unsere Civilisation (of Western Europe) „is a rare exception in the history
of the world“ (s. Maine). Und im unaufhaltsam gesteigerten Wachsen der
Incongruenz findet sich die Ausnahme auf dem Weg zur Regel.
5) Eine theoretische Ansicht in der Naturwissenschaft ist niemals an
sich selbst wahr, sie ist nur wahr für die Zeit, in der sie sich geltend
macht (Liebig), so lange sie sich mit der Kenntniss der Thatsachen deckt,
diese eben deckend.
6) Und so auch für naturwissenschaftliche Psychologie keine Hülfe,
noch Aussicht ohne vorheriges Sammeln, was trotz aller Einwendungen
verehrlicher Kritiker nun einmal nicht erspart werden kann, und gerade in
der Ethnologie dringendster Noth sich am dringendsten aufdrängt. So
drängend, dass kein Drängen im Uebermaass der Hyperbeln schaden kann,
und es deshalb auch gerne hinzunehmen, wenn ad verbum und ad literam
genommen, im Staunen der durch Eulenspiegeleien gleichsam Genarrten über
das Aufhäufen psychischer „Rohstoffe“, für sicannische oder madegassische
Seelenflicker etwa brauchbar. Wer in den Tabulae Petri Mosellani de schema-
tibus et tropis den Index figurarum (auf 4 Seiten) zu lang findet, möge beachten,
dass „die Allegorie von dem wörtlichen Ausdrucke, ihrer Natur nach, weit ent-
fernt sein kann“, so dass die Erklärung nicht immer „gegeben, sondern oft
dem eigenen Nachdenken des Lesers überlassen werden“ (Blair), statt „s’attacher
servilement au sens littéral des mots“ (s. Quitard). Allegoria autem ad
multiplices ambiguitates se extendit (Camerarius), und so ist Manches in
den Kauf zu nehmen, ohne volles Recht darüber zu klagen. Die für eine
psychologische Naturwissenschaft vielfach aus den chemischen herange-
zogenen Vergleiche hätten indess darauf führen mögen, dass die in der
Ethnologie gesammelten „Rohstoffe“ um so unbekümmerter (wenn die Noth
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[XX/0026] ³⁾ fassen, die erste Peripherie eine weit gezogene sein müssen, um auch für die Unterabtheilungen noch gleichwerthige Seitenstücke zu finden. Wie aber immer, ob so oder so, jedenfalls hat als unbedingter der Grundsatz völliger Voraussetzungslosigkeit zu gelten, bei diesem ersten Beginn der Forschung auf einem noch durchaus fremden Terrain. Zunächst kann keine andere Aufgabe vorliegen, als die überall erste der Induction, die erste und für wissenschaftlich gesicherten Aufbau unumgängliche: das thatsäch- liche Material zu sammeln und deutlich vor Augen zu stellen. Dann frisch hinein an die Arbeit, und in der Arbeit selbst wird aus harmonischen Verwandtschaftsgesetzen sich klären, was wir arbeiten, und wozu? Aus der Natur selbst werden sich die gestellten Fragen so beantworten, wie sie der, mit den aus eigener Qual erzwungenen Deutungen nicht länger befriedigte, Geist schon seit lange ersehnte. ⁴⁾ „The tone of thought common among us, all our hopes, fears and speculations would be materially affected, if we had vividly before us the relation of the progressive races to the totality of human life“, denn unsere Civilisation (of Western Europe) „is a rare exception in the history of the world“ (s. Maine). Und im unaufhaltsam gesteigerten Wachsen der Incongruenz findet sich die Ausnahme auf dem Weg zur Regel. ⁵⁾ Eine theoretische Ansicht in der Naturwissenschaft ist niemals an sich selbst wahr, sie ist nur wahr für die Zeit, in der sie sich geltend macht (Liebig), so lange sie sich mit der Kenntniss der Thatsachen deckt, diese eben deckend. ⁶⁾ Und so auch für naturwissenschaftliche Psychologie keine Hülfe, noch Aussicht ohne vorheriges Sammeln, was trotz aller Einwendungen verehrlicher Kritiker nun einmal nicht erspart werden kann, und gerade in der Ethnologie dringendster Noth sich am dringendsten aufdrängt. So drängend, dass kein Drängen im Uebermaass der Hyperbeln schaden kann, und es deshalb auch gerne hinzunehmen, wenn ad verbum und ad literam genommen, im Staunen der durch Eulenspiegeleien gleichsam Genarrten über das Aufhäufen psychischer „Rohstoffe“, für sicannische oder madegassische Seelenflicker etwa brauchbar. Wer in den Tabulae Petri Mosellani de schema- tibus et tropis den Index figurarum (auf 4 Seiten) zu lang findet, möge beachten, dass „die Allegorie von dem wörtlichen Ausdrucke, ihrer Natur nach, weit ent- fernt sein kann“, so dass die Erklärung nicht immer „gegeben, sondern oft dem eigenen Nachdenken des Lesers überlassen werden“ (Blair), statt „s’attacher servilement au sens littéral des mots“ (s. Quitard). Allegoria autem ad multiplices ambiguitates se extendit (Camerarius), und so ist Manches in den Kauf zu nehmen, ohne volles Recht darüber zu klagen. Die für eine psychologische Naturwissenschaft vielfach aus den chemischen herange- zogenen Vergleiche hätten indess darauf führen mögen, dass die in der Ethnologie gesammelten „Rohstoffe“ um so unbekümmerter (wenn die Noth

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. XX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/26>, abgerufen am 21.11.2024.