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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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Aber in Betreff dieser eben -- vor welcher nicht nur
Kant gewarnt, sondern deretwegen Comte die Psychologie
überhaupt, für den von der Phrenologie zu liefernden Ersatz,
beseitigt -- eben in Betreff dieser war im Voraus ein
Fragezeichen voraufzusetzen. Mit dem Denken, im eigenen
Denken sich selbst zu denken, schien man nicht weiter zu
kommen, als mit dem Herausziehen am Schopfe. "Vom
seelischen Leben selbst haben wir keine Vorstellung mehr"
(H. Wolff), indem wir es eben leben in der Seele (oder
als Seele). "Die Vorstellungen sind unbestimmte Grössen,
welche einer exacten Betrachtung erst zugänglich werden,
wenn sie in bestimmte Grössen verwandelt und gemessen
sind" (Wundt). Wie würden also die Aufgaben der Psycho-
logie zu formuliren sein, damit der Mensch sich selbst
verstehe? in Autopsie.

Da er in dem von ihm selbst gelebten Process subjectiv
verschlungen ist, kann er ihn nicht während dieses Werdens
anschauen, sondern nur in dem daraus Gewordenen; und dann
aus diesem Seienden, (aus diesem Sein) vielleicht durch Recon-
structionen später wieder dahingelangen auch in jenem gene-
tischen Flusse*) Gesetzlichkeiten zu fixiren. Hier würde
nun in individueller Psychologie (um Differenzirungen zu
gewinnen), das Material auf pathologische Abweichungen, in
den Geistesstörungen, beschränkt sein, oder auf die abgestuften
Phasen der Kinderseele, mit manch lehrreichem Seitenblick,
unter vorsichtiger Controlle auf die Thierseele**).

*) Von allen Formen (der Vermögen und Kräfte), welche in der
ausgebildeten Seele wahrzunehmen, hat sich ergeben, dass sie erst durch
eine längere Reihe von dazwischenliegenden Processen erzeugt werden,
indem die Entwickelungen der Seele allgemein menschlich nothwendig
prädeterminirt im Angeborenen, aber nicht präformirt sind (Beneke).
**) Von den Keimen, brachliegend im Geiste des Menschen ("und die
Wurzel des Wortes Mensch bedeutet denken") wird nie eine Spur irgendwo
als im Menschen, entdeckt werden (s. M. Müller), im regne humain (b. Quatre-
fages).

Aber in Betreff dieser eben — vor welcher nicht nur
Kant gewarnt, sondern deretwegen Comte die Psychologie
überhaupt, für den von der Phrenologie zu liefernden Ersatz,
beseitigt — eben in Betreff dieser war im Voraus ein
Fragezeichen voraufzusetzen. Mit dem Denken, im eigenen
Denken sich selbst zu denken, schien man nicht weiter zu
kommen, als mit dem Herausziehen am Schopfe. „Vom
seelischen Leben selbst haben wir keine Vorstellung mehr“
(H. Wolff), indem wir es eben leben in der Seele (oder
als Seele). „Die Vorstellungen sind unbestimmte Grössen,
welche einer exacten Betrachtung erst zugänglich werden,
wenn sie in bestimmte Grössen verwandelt und gemessen
sind“ (Wundt). Wie würden also die Aufgaben der Psycho-
logie zu formuliren sein, damit der Mensch sich selbst
verstehe? in Autopsie.

Da er in dem von ihm selbst gelebten Process subjectiv
verschlungen ist, kann er ihn nicht während dieses Werdens
anschauen, sondern nur in dem daraus Gewordenen; und dann
aus diesem Seienden, (aus diesem Sein) vielleicht durch Recon-
structionen später wieder dahingelangen auch in jenem gene-
tischen Flusse*) Gesetzlichkeiten zu fixiren. Hier würde
nun in individueller Psychologie (um Differenzirungen zu
gewinnen), das Material auf pathologische Abweichungen, in
den Geistesstörungen, beschränkt sein, oder auf die abgestuften
Phasen der Kinderseele, mit manch lehrreichem Seitenblick,
unter vorsichtiger Controlle auf die Thierseele**).

*) Von allen Formen (der Vermögen und Kräfte), welche in der
ausgebildeten Seele wahrzunehmen, hat sich ergeben, dass sie erst durch
eine längere Reihe von dazwischenliegenden Processen erzeugt werden,
indem die Entwickelungen der Seele allgemein menschlich nothwendig
prädeterminirt im Angeborenen, aber nicht präformirt sind (Beneke).
**) Von den Keimen, brachliegend im Geiste des Menschen („und die
Wurzel des Wortes Mensch bedeutet denken“) wird nie eine Spur irgendwo
als im Menschen, entdeckt werden (s. M. Müller), im règne humain (b. Quatre-
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[5/0039] Aber in Betreff dieser eben — vor welcher nicht nur Kant gewarnt, sondern deretwegen Comte die Psychologie überhaupt, für den von der Phrenologie zu liefernden Ersatz, beseitigt — eben in Betreff dieser war im Voraus ein Fragezeichen voraufzusetzen. Mit dem Denken, im eigenen Denken sich selbst zu denken, schien man nicht weiter zu kommen, als mit dem Herausziehen am Schopfe. „Vom seelischen Leben selbst haben wir keine Vorstellung mehr“ (H. Wolff), indem wir es eben leben in der Seele (oder als Seele). „Die Vorstellungen sind unbestimmte Grössen, welche einer exacten Betrachtung erst zugänglich werden, wenn sie in bestimmte Grössen verwandelt und gemessen sind“ (Wundt). Wie würden also die Aufgaben der Psycho- logie zu formuliren sein, damit der Mensch sich selbst verstehe? in Autopsie. Da er in dem von ihm selbst gelebten Process subjectiv verschlungen ist, kann er ihn nicht während dieses Werdens anschauen, sondern nur in dem daraus Gewordenen; und dann aus diesem Seienden, (aus diesem Sein) vielleicht durch Recon- structionen später wieder dahingelangen auch in jenem gene- tischen Flusse *) Gesetzlichkeiten zu fixiren. Hier würde nun in individueller Psychologie (um Differenzirungen zu gewinnen), das Material auf pathologische Abweichungen, in den Geistesstörungen, beschränkt sein, oder auf die abgestuften Phasen der Kinderseele, mit manch lehrreichem Seitenblick, unter vorsichtiger Controlle auf die Thierseele **). *) Von allen Formen (der Vermögen und Kräfte), welche in der ausgebildeten Seele wahrzunehmen, hat sich ergeben, dass sie erst durch eine längere Reihe von dazwischenliegenden Processen erzeugt werden, indem die Entwickelungen der Seele allgemein menschlich nothwendig prädeterminirt im Angeborenen, aber nicht präformirt sind (Beneke). **) Von den Keimen, brachliegend im Geiste des Menschen („und die Wurzel des Wortes Mensch bedeutet denken“) wird nie eine Spur irgendwo als im Menschen, entdeckt werden (s. M. Müller), im règne humain (b. Quatre- fages).

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/39>, abgerufen am 24.11.2024.