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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Nun gibt es aber einen dritten Fall, und dieser ist es, welcher pba_093.002
hier in Betracht kommt.

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Es ist jemand von einem bedeutenden Ethos mächtig ergriffen, dem pba_093.004
er einen auch die andern stark bewegenden Ausdruck verleihen will. Der pba_093.005
Anlaß für ihn zu jenem Ethos ist eine Reihe wichtiger Gedanken, tiefgreifender pba_093.006
Reflexionen gewesen, mit denen er zu einem ihn beruhigenden pba_093.007
und erhebenden Abschluß gelangt ist. Der Philosoph führt dieselben pba_093.008
unmittelbar vor und wendet sich damit an jene kleine Zahl der Mitstrebenden, pba_093.009
die ihm zu folgen geneigt sind. Der Redner bringt die zu pba_093.010
jenen Reflexionen den Anlaß gebenden Umstände und Verhältnisse in pba_093.011
ausführlicher, für seinen Zweck angeordneter Darstellung vor die Augen pba_093.012
seiner Zuhörer und erreicht damit seinen Zweck, die von ihm gewollte pba_093.013
Ueberzeugung herzustellen bei der Gruppe, welche schon zuvor an jenen pba_093.014
Verhältnissen einen durch ihr Jnteresse hervorgerufenen Anteil nahm. Der pba_093.015
Dichter,
den sein Ethos zum Reden zwingt, hat einen weiteren Kreis pba_093.016
im Auge, als der Philosoph und der Redner, er wendet sich an die pba_093.017
ganze Menschheit, und anders wie jene, setzt er das Jnteresse für seinen pba_093.018
Gegenstand nicht voraus, sondern er will es hervorbringen auch bei den pba_093.019
Gleichgültigen und selbst bei den Widerwilligen. Dazu bedarf er nun pba_093.020
aber anderer Mittel, und dieselben sind von so starker Wirkungskraft, pba_093.021
daß der Philosoph und der Redner nicht selten sie ihm abborgen, gerade pba_093.022
da, wo es ihnen nicht nur auf die Ueberzeugung, sondern zugleich auf pba_093.023
eine Beeinflussung der Gemütskräfte und des Willens ankommt. Für pba_093.024
den Dichter ist das argumentierende Verfahren jener beiden andern ausgeschlossen; pba_093.025
nun liegt aber der Fall so, daß die konkreten Verhältnisse, pba_093.026
die der Reflexion und dem Ethos den Ursprung geben, viel zu ausgebreiteter pba_093.027
und weitverzweigter Art und viel zu sehr der Einheit ermangelnd pba_093.028
sind, als daß an ihre Verwendung als Darstellungsmittel im pba_093.029
Gedichte gedacht werden könnte. Hier bedient sich nun die Kunst jenes pba_093.030
unentbehrlichen Auskunftsmittels: an die Stelle der jenen abstrakten pba_093.031
Reflexionen und jenen ethischen Zuständen in der Wirklichkeit entsprechenden pba_093.032
und zu Grunde liegenden konkreten Verhältnisse und pba_093.033
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setzt sie andre, jenen ähnliche konkrete Verhältnisse pba_093.034
und Vorgänge,
welche eben durch diese Aehnlichkeitsmomente die Kraft pba_093.035
haben dieselben Reflexionen und ethischen Zustände hervorzurufen, die pba_093.036
aber vor ihren der Wirklichkeit angehörigen Vorbildern den Vorzug der pba_093.037
Uebersichtlichkeit und Einheit haben. Es ist derselbe Weg, den pba_093.038
auch der Mythus in solchem Falle mit Vorliebe einschlägt: es sei pba_093.039
an das Urteil des Paris erinnert, oder an Herkules am Scheidewege pba_093.040
oder an Christus und den Versucher, der ihm vom Felsen

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Nun gibt es aber einen dritten Fall, und dieser ist es, welcher pba_093.002
hier in Betracht kommt.

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Es ist jemand von einem bedeutenden Ethos mächtig ergriffen, dem pba_093.004
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Ueberzeugung herzustellen bei der Gruppe, welche schon zuvor an jenen pba_093.014
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den sein Ethos zum Reden zwingt, hat einen weiteren Kreis pba_093.016
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ganze Menschheit, und anders wie jene, setzt er das Jnteresse für seinen pba_093.018
Gegenstand nicht voraus, sondern er will es hervorbringen auch bei den pba_093.019
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eine Beeinflussung der Gemütskräfte und des Willens ankommt. Für pba_093.024
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setzt sie andre, jenen ähnliche konkrete Verhältnisse pba_093.034
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[93/0111] pba_093.001 Nun gibt es aber einen dritten Fall, und dieser ist es, welcher pba_093.002 hier in Betracht kommt. pba_093.003 Es ist jemand von einem bedeutenden Ethos mächtig ergriffen, dem pba_093.004 er einen auch die andern stark bewegenden Ausdruck verleihen will. Der pba_093.005 Anlaß für ihn zu jenem Ethos ist eine Reihe wichtiger Gedanken, tiefgreifender pba_093.006 Reflexionen gewesen, mit denen er zu einem ihn beruhigenden pba_093.007 und erhebenden Abschluß gelangt ist. Der Philosoph führt dieselben pba_093.008 unmittelbar vor und wendet sich damit an jene kleine Zahl der Mitstrebenden, pba_093.009 die ihm zu folgen geneigt sind. Der Redner bringt die zu pba_093.010 jenen Reflexionen den Anlaß gebenden Umstände und Verhältnisse in pba_093.011 ausführlicher, für seinen Zweck angeordneter Darstellung vor die Augen pba_093.012 seiner Zuhörer und erreicht damit seinen Zweck, die von ihm gewollte pba_093.013 Ueberzeugung herzustellen bei der Gruppe, welche schon zuvor an jenen pba_093.014 Verhältnissen einen durch ihr Jnteresse hervorgerufenen Anteil nahm. Der pba_093.015 Dichter, den sein Ethos zum Reden zwingt, hat einen weiteren Kreis pba_093.016 im Auge, als der Philosoph und der Redner, er wendet sich an die pba_093.017 ganze Menschheit, und anders wie jene, setzt er das Jnteresse für seinen pba_093.018 Gegenstand nicht voraus, sondern er will es hervorbringen auch bei den pba_093.019 Gleichgültigen und selbst bei den Widerwilligen. Dazu bedarf er nun pba_093.020 aber anderer Mittel, und dieselben sind von so starker Wirkungskraft, pba_093.021 daß der Philosoph und der Redner nicht selten sie ihm abborgen, gerade pba_093.022 da, wo es ihnen nicht nur auf die Ueberzeugung, sondern zugleich auf pba_093.023 eine Beeinflussung der Gemütskräfte und des Willens ankommt. Für pba_093.024 den Dichter ist das argumentierende Verfahren jener beiden andern ausgeschlossen; pba_093.025 nun liegt aber der Fall so, daß die konkreten Verhältnisse, pba_093.026 die der Reflexion und dem Ethos den Ursprung geben, viel zu ausgebreiteter pba_093.027 und weitverzweigter Art und viel zu sehr der Einheit ermangelnd pba_093.028 sind, als daß an ihre Verwendung als Darstellungsmittel im pba_093.029 Gedichte gedacht werden könnte. Hier bedient sich nun die Kunst jenes pba_093.030 unentbehrlichen Auskunftsmittels: an die Stelle der jenen abstrakten pba_093.031 Reflexionen und jenen ethischen Zuständen in der Wirklichkeit entsprechenden pba_093.032 und zu Grunde liegenden konkreten Verhältnisse und pba_093.033 Vorgänge setzt sie andre, jenen ähnliche konkrete Verhältnisse pba_093.034 und Vorgänge, welche eben durch diese Aehnlichkeitsmomente die Kraft pba_093.035 haben dieselben Reflexionen und ethischen Zustände hervorzurufen, die pba_093.036 aber vor ihren der Wirklichkeit angehörigen Vorbildern den Vorzug der pba_093.037 Uebersichtlichkeit und Einheit haben. Es ist derselbe Weg, den pba_093.038 auch der Mythus in solchem Falle mit Vorliebe einschlägt: es sei pba_093.039 an das Urteil des Paris erinnert, oder an Herkules am Scheidewege pba_093.040 oder an Christus und den Versucher, der ihm vom Felsen

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/111>, abgerufen am 23.11.2024.