Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_154.001 pba_154.007 pba_154.014 XI. pba_154.015 1 pba_154.022
Jn beiden Gedichten, soweit sie der Zeit nach auseinander liegen -- 1771 und pba_154.023 1813 -- genau dieselbe Form des Gespräches mit einer Blume, hier des Knaben mit pba_154.024 dem Haidenröslein, dort des Mannes mit dem Waldblümchen, und in völliger Uebereinstimmung pba_154.025 durchgeführt: "Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Haiden", pba_154.026 und dort: "Jm Schatten sah ich ein Blümchen stehn"; dann die Schilderung: "War pba_154.027 so jung und morgenschön", dort: "Wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön"; aber pba_154.028 entsprechend dem grundverschiedenen Stimmungscharakter hier der sorglos daherstürmende, pba_154.029 begehrende Knabe: "Lief er schnell es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden"; dort pba_154.030 die Achtlosigkeit des seiner Gedankenwelt hingegebenen, von Leidenschaften befreiten pba_154.031 Mannes: "Jch ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war pba_154.032 mein Sinn." Dem entsprechend weiter hier: "Jch breche dich", und die Antwort: pba_154.033 "Jch steche dich, daß du ewig denkst an mich"; dort: "Jch wollt' es brechen, Da sagt pba_154.034 es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?" Ebenso in beiden Fällen der Ausgang: pba_154.035 "Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich pba_154.036 und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden"; dagegen dort: pba_154.037 "Jch grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen pba_154.038 Haus. Und pflanzt' es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so pba_154.039 fort." Ein vollkommener, bis in die kleinste Einzelheit durchgeführter Parallelismus! pba_154.001 pba_154.007 pba_154.014 XI. pba_154.015 1 pba_154.022
Jn beiden Gedichten, soweit sie der Zeit nach auseinander liegen — 1771 und pba_154.023 1813 — genau dieselbe Form des Gespräches mit einer Blume, hier des Knaben mit pba_154.024 dem Haidenröslein, dort des Mannes mit dem Waldblümchen, und in völliger Uebereinstimmung pba_154.025 durchgeführt: „Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Haiden“, pba_154.026 und dort: „Jm Schatten sah ich ein Blümchen stehn“; dann die Schilderung: „War pba_154.027 so jung und morgenschön“, dort: „Wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön“; aber pba_154.028 entsprechend dem grundverschiedenen Stimmungscharakter hier der sorglos daherstürmende, pba_154.029 begehrende Knabe: „Lief er schnell es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden“; dort pba_154.030 die Achtlosigkeit des seiner Gedankenwelt hingegebenen, von Leidenschaften befreiten pba_154.031 Mannes: „Jch ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war pba_154.032 mein Sinn.“ Dem entsprechend weiter hier: „Jch breche dich“, und die Antwort: pba_154.033 „Jch steche dich, daß du ewig denkst an mich“; dort: „Jch wollt' es brechen, Da sagt pba_154.034 es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?“ Ebenso in beiden Fällen der Ausgang: pba_154.035 „Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich pba_154.036 und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden“; dagegen dort: pba_154.037 „Jch grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen pba_154.038 Haus. 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Die <hi rendition="#g">Mittel</hi> der Darstellung sind in <lb n="pba_154.005"/> beiden Fällen sowohl in der Wahl des Bildes als bis in die Details <lb n="pba_154.006"/> der Anordnung und des Ausdrucks genau dieselben.<note xml:id="pba_154_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_154.022"/> Jn beiden Gedichten, soweit sie der Zeit nach auseinander liegen — 1771 und <lb n="pba_154.023"/> 1813 — genau dieselbe Form des Gespräches mit einer Blume, hier des Knaben mit <lb n="pba_154.024"/> dem Haidenröslein, dort des Mannes mit dem Waldblümchen, und in völliger Uebereinstimmung <lb n="pba_154.025"/> durchgeführt: „Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Haiden“, <lb n="pba_154.026"/> und dort: „Jm Schatten sah ich ein Blümchen stehn“; dann die Schilderung: „War <lb n="pba_154.027"/> so jung und morgenschön“, dort: „Wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön“; aber <lb n="pba_154.028"/> entsprechend dem grundverschiedenen Stimmungscharakter hier der sorglos daherstürmende, <lb n="pba_154.029"/> begehrende Knabe: „Lief er schnell es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden“; dort <lb n="pba_154.030"/> die Achtlosigkeit des seiner Gedankenwelt hingegebenen, von Leidenschaften befreiten <lb n="pba_154.031"/> Mannes: „Jch ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war <lb n="pba_154.032"/> mein Sinn.“ Dem entsprechend weiter hier: „Jch breche dich“, und die Antwort: <lb n="pba_154.033"/> „Jch steche dich, daß du ewig denkst an mich“; dort: „Jch wollt' es brechen, Da sagt <lb n="pba_154.034"/> es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?“ Ebenso in beiden Fällen der Ausgang: <lb n="pba_154.035"/> „Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich <lb n="pba_154.036"/> und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden“; dagegen dort: <lb n="pba_154.037"/> „Jch grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen <lb n="pba_154.038"/> Haus. 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Nirgends hat Lessing dem seine Zeit beherrschenden <lb n="pba_154.017"/> Jrrtum von der Lehrhaftigkeit der Dichtung und ihrer Bestimmung, <lb n="pba_154.018"/> moralische Besserung zu bewirken, einen stärkeren Tribut entrichtet als <lb n="pba_154.019"/> hier. Freilich weist er die Fabel <hi rendition="#g">mehr</hi> der Philosophie und Rhetorik <lb n="pba_154.020"/> als der eigentlichen Poesie zu, aber immerhin betrachtet er sie doch als <lb n="pba_154.021"/> „Gedicht“, insofern man „das Wesen eines solchen in die <hi rendition="#g">bloße</hi> Fiktion </p> </div> </body> </text> </TEI> [154/0172]
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ist dort Gesamtinhalt der Nachahmung: Dauer und beglückende Wärme pba_154.002
der befestigten Neigung, so hier: die verhängnisvolle Mischung von flüchtigem, pba_154.003
stürmischem Genießen und lange dauernden scharfen Schmerzen pba_154.004
in unbeständiger Jünglingsliebe. Die Mittel der Darstellung sind in pba_154.005
beiden Fällen sowohl in der Wahl des Bildes als bis in die Details pba_154.006
der Anordnung und des Ausdrucks genau dieselben. 1
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Um aber sich zu vergegenwärtigen, was denn nun, im Gegensatze pba_154.008
hierzu, darunter zu verstehen sei, wenn die Handlung selbst, d. h. pba_154.009
also diejenigen Seelenvorgänge, welche beim Handeln in Bewegung sind, pba_154.010
zum Zwecke der Nachahmung gemacht wird, genügt es schon, wenn man pba_154.011
die einfachste, kürzeste und daher am leichtesten zu überschauende Art pba_154.012
der epischen Gattung nach dieser Richtung genauer untersucht: die pba_154.013
Fabel.
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Wieder ist es Lessing, von dessen Definition der Fabel hier ausgegangen pba_154.016
werden muß. Nirgends hat Lessing dem seine Zeit beherrschenden pba_154.017
Jrrtum von der Lehrhaftigkeit der Dichtung und ihrer Bestimmung, pba_154.018
moralische Besserung zu bewirken, einen stärkeren Tribut entrichtet als pba_154.019
hier. Freilich weist er die Fabel mehr der Philosophie und Rhetorik pba_154.020
als der eigentlichen Poesie zu, aber immerhin betrachtet er sie doch als pba_154.021
„Gedicht“, insofern man „das Wesen eines solchen in die bloße Fiktion
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Jn beiden Gedichten, soweit sie der Zeit nach auseinander liegen — 1771 und pba_154.023
1813 — genau dieselbe Form des Gespräches mit einer Blume, hier des Knaben mit pba_154.024
dem Haidenröslein, dort des Mannes mit dem Waldblümchen, und in völliger Uebereinstimmung pba_154.025
durchgeführt: „Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Haiden“, pba_154.026
und dort: „Jm Schatten sah ich ein Blümchen stehn“; dann die Schilderung: „War pba_154.027
so jung und morgenschön“, dort: „Wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön“; aber pba_154.028
entsprechend dem grundverschiedenen Stimmungscharakter hier der sorglos daherstürmende, pba_154.029
begehrende Knabe: „Lief er schnell es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden“; dort pba_154.030
die Achtlosigkeit des seiner Gedankenwelt hingegebenen, von Leidenschaften befreiten pba_154.031
Mannes: „Jch ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war pba_154.032
mein Sinn.“ Dem entsprechend weiter hier: „Jch breche dich“, und die Antwort: pba_154.033
„Jch steche dich, daß du ewig denkst an mich“; dort: „Jch wollt' es brechen, Da sagt pba_154.034
es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?“ Ebenso in beiden Fällen der Ausgang: pba_154.035
„Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich pba_154.036
und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden“; dagegen dort: pba_154.037
„Jch grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen pba_154.038
Haus. Und pflanzt' es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so pba_154.039
fort.“ Ein vollkommener, bis in die kleinste Einzelheit durchgeführter Parallelismus!
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