Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_155.001 pba_155.006 pba_155.012 pba_155.020 1 pba_155.033
Die heftigste Ankündigung seines neuen Evangeliums ging recht eigentlich von pba_155.034 der Polemik gegen Lessing aus: es ist die "Aesthetica in nuce", "eine Rhapsodie pba_155.035 in kabbalistischer Prose", die 1762 in den "Kreuzzügen des Philologen" pba_155.036 erschien. Die Sprache der schwungvollsten Begeisterung wechselt darin unaufhörlich pba_155.037 mit der bittersten Jronie, und die heftigsten Sarkasmen brechen unvermutet pba_155.038 überall hervor. "Nicht Leyer! -- noch Pinsel! -- eine Wurfschaufel für meine Muse, pba_155.039 die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!" -- so beginnt die Rhapsodie, und gleich darauf pba_155.040 folgen die berühmten, so oft citierten Worte: "Poesie ist die Muttersprache des pba_155.001 pba_155.006 pba_155.012 pba_155.020 1 pba_155.033
Die heftigste Ankündigung seines neuen Evangeliums ging recht eigentlich von pba_155.034 der Polemik gegen Lessing aus: es ist die „Aesthetica in nuce“, „eine Rhapsodie pba_155.035 in kabbalistischer Prose“, die 1762 in den „Kreuzzügen des Philologen“ pba_155.036 erschien. Die Sprache der schwungvollsten Begeisterung wechselt darin unaufhörlich pba_155.037 mit der bittersten Jronie, und die heftigsten Sarkasmen brechen unvermutet pba_155.038 überall hervor. „Nicht Leyer! — noch Pinsel! — eine Wurfschaufel für meine Muse, pba_155.039 die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!“ — so beginnt die Rhapsodie, und gleich darauf pba_155.040 folgen die berühmten, so oft citierten Worte: „Poesie ist die Muttersprache des <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0173" n="155"/><lb n="pba_155.001"/> setzt,“ und spricht ihr nur „als notwendige Eigenschaft“ den „poetischen“ <lb n="pba_155.002"/> Ausdruck und „ein gewisses Silbenmaß“ ab, während er auch dieses als <lb n="pba_155.003"/> zulässig betrachtet, sofern beides mit solcher Meisterschaft gehandhabt <lb n="pba_155.004"/> wird, daß dadurch weder der Kürze noch der strengsten innern Folgerichtigkeit <lb n="pba_155.005"/> der Fadeldichtung Eintrag gethan wird.</p> <p><lb n="pba_155.006"/> Seine Definition lautet: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen <lb n="pba_155.007"/> Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die <lb n="pba_155.008"/> Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man <lb n="pba_155.009"/> den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine <lb n="pba_155.010"/> Fabel.“ Sie ist ihm also ihrem Ursprung und Zweck nach, wie er selbst <lb n="pba_155.011"/> es ausdrückt, „<hi rendition="#g">ein Exempel der praktischen Sittenlehre</hi>“.</p> <p><lb n="pba_155.012"/> Aus diesem Gesichtspunkt faßt er nun folgerichtig auch alle Eigenschaften <lb n="pba_155.013"/> der Fabeldichtung auf und erklärt also ihre Haupteigentümlichkeit, <lb n="pba_155.014"/> die Anwendung der Tiere als handelnder Personen lediglich aus <lb n="pba_155.015"/> „<hi rendition="#g">der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere</hi>“, deren <lb n="pba_155.016"/> das Exempel der Sittenlehre bedürfe, um in möglichster Kürze, mit dem <lb n="pba_155.017"/> stärksten Nachdruck und „ohne Erregung der Leidenschaften“, welche „die <lb n="pba_155.018"/> Erkenntnis verdunkeln würden“, den moralischen Satz zur anschauenden <lb n="pba_155.019"/> Erkenntnis zu bringen.</p> <p><lb n="pba_155.020"/> Schon zu seiner Zeit und sogar unmittelbar nach dem Erscheinen <lb n="pba_155.021"/> seiner „Abhandlungen über die Fabel“ erregte er damit bei denen, welche <lb n="pba_155.022"/> im Gegensatz zu der bisherigen philosophisch-spekulativen Methode in <lb n="pba_155.023"/> der poetischen Theorie und Kritik das Wesen der Poesie in einem <lb n="pba_155.024"/> unmittelbaren Schöpfungsakt der erregten Empfindung erblickten, bei <lb n="pba_155.025"/> den theoretischen Verkündigern der anbrechenden Genie-Periode, den leidenschaftlichsten <lb n="pba_155.026"/> Widerspruch. Kaum ist Lessing jemals wieder mit solcher <lb n="pba_155.027"/> Heftigkeit — und zugleich mit so viel Berechtigung — angegriffen worden, <lb n="pba_155.028"/> als es damals durch <hi rendition="#g">Hamann</hi> geschah, und nur der wunderlich verdeckten <lb n="pba_155.029"/> Angriffsweise und der bis zur völligen Unverständlichkeit gehenden <lb n="pba_155.030"/> Dunkelheit der Ausdrucksweise desselben ist es zuzuschreiben, daß <lb n="pba_155.031"/> diese Thatsache sowohl damals als in der späteren litterarhistorischen <lb n="pba_155.032"/> Kritik unbemerkt blieb.<note xml:id="pba_155_1a" n="1" place="foot" next="#pba_155_1b"><lb n="pba_155.033"/> Die heftigste Ankündigung seines neuen Evangeliums ging recht eigentlich von <lb n="pba_155.034"/> der Polemik gegen <hi rendition="#g">Lessing</hi> aus: es ist die „<hi rendition="#g">Aesthetica in nuce</hi>“, „<hi rendition="#g">eine Rhapsodie <lb n="pba_155.035"/> in kabbalistischer Prose</hi>“, die 1762 in den „<hi rendition="#g">Kreuzzügen des Philologen</hi>“ <lb n="pba_155.036"/> erschien. Die Sprache der schwungvollsten Begeisterung wechselt darin unaufhörlich <lb n="pba_155.037"/> mit der bittersten Jronie, und die heftigsten Sarkasmen brechen unvermutet <lb n="pba_155.038"/> überall hervor. „Nicht Leyer! — noch Pinsel! — eine Wurfschaufel für meine Muse, <lb n="pba_155.039"/> die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!“ — so beginnt die Rhapsodie, und gleich darauf <lb n="pba_155.040"/> folgen die berühmten, so oft citierten Worte: „Poesie ist die <hi rendition="#g">Muttersprache</hi> des</note></p> </div> </body> </text> </TEI> [155/0173]
pba_155.001
setzt,“ und spricht ihr nur „als notwendige Eigenschaft“ den „poetischen“ pba_155.002
Ausdruck und „ein gewisses Silbenmaß“ ab, während er auch dieses als pba_155.003
zulässig betrachtet, sofern beides mit solcher Meisterschaft gehandhabt pba_155.004
wird, daß dadurch weder der Kürze noch der strengsten innern Folgerichtigkeit pba_155.005
der Fadeldichtung Eintrag gethan wird.
pba_155.006
Seine Definition lautet: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen pba_155.007
Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die pba_155.008
Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man pba_155.009
den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine pba_155.010
Fabel.“ Sie ist ihm also ihrem Ursprung und Zweck nach, wie er selbst pba_155.011
es ausdrückt, „ein Exempel der praktischen Sittenlehre“.
pba_155.012
Aus diesem Gesichtspunkt faßt er nun folgerichtig auch alle Eigenschaften pba_155.013
der Fabeldichtung auf und erklärt also ihre Haupteigentümlichkeit, pba_155.014
die Anwendung der Tiere als handelnder Personen lediglich aus pba_155.015
„der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere“, deren pba_155.016
das Exempel der Sittenlehre bedürfe, um in möglichster Kürze, mit dem pba_155.017
stärksten Nachdruck und „ohne Erregung der Leidenschaften“, welche „die pba_155.018
Erkenntnis verdunkeln würden“, den moralischen Satz zur anschauenden pba_155.019
Erkenntnis zu bringen.
pba_155.020
Schon zu seiner Zeit und sogar unmittelbar nach dem Erscheinen pba_155.021
seiner „Abhandlungen über die Fabel“ erregte er damit bei denen, welche pba_155.022
im Gegensatz zu der bisherigen philosophisch-spekulativen Methode in pba_155.023
der poetischen Theorie und Kritik das Wesen der Poesie in einem pba_155.024
unmittelbaren Schöpfungsakt der erregten Empfindung erblickten, bei pba_155.025
den theoretischen Verkündigern der anbrechenden Genie-Periode, den leidenschaftlichsten pba_155.026
Widerspruch. Kaum ist Lessing jemals wieder mit solcher pba_155.027
Heftigkeit — und zugleich mit so viel Berechtigung — angegriffen worden, pba_155.028
als es damals durch Hamann geschah, und nur der wunderlich verdeckten pba_155.029
Angriffsweise und der bis zur völligen Unverständlichkeit gehenden pba_155.030
Dunkelheit der Ausdrucksweise desselben ist es zuzuschreiben, daß pba_155.031
diese Thatsache sowohl damals als in der späteren litterarhistorischen pba_155.032
Kritik unbemerkt blieb. 1
1 pba_155.033
Die heftigste Ankündigung seines neuen Evangeliums ging recht eigentlich von pba_155.034
der Polemik gegen Lessing aus: es ist die „Aesthetica in nuce“, „eine Rhapsodie pba_155.035
in kabbalistischer Prose“, die 1762 in den „Kreuzzügen des Philologen“ pba_155.036
erschien. Die Sprache der schwungvollsten Begeisterung wechselt darin unaufhörlich pba_155.037
mit der bittersten Jronie, und die heftigsten Sarkasmen brechen unvermutet pba_155.038
überall hervor. „Nicht Leyer! — noch Pinsel! — eine Wurfschaufel für meine Muse, pba_155.039
die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!“ — so beginnt die Rhapsodie, und gleich darauf pba_155.040
folgen die berühmten, so oft citierten Worte: „Poesie ist die Muttersprache des
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |