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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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denkliche, lang hingehaltene, zähe Ueberlieferung, die mächtig genug war, pba_158.002
sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe pba_158.003
der Zeiten anzuschmiegen. Gleich allem Epos, in nie still stehendem pba_158.004
Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen, pba_158.005
und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen pba_158.006
menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und pba_158.007
wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt pba_158.008
Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich pba_158.009
aus und wird nur noch in bröckelhafter Volkssage dahingetragen. pba_158.010
Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als pba_158.011
ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen pba_158.012
gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über pba_158.013
den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und pba_158.014
festigen."1

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Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen pba_158.016
J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden pba_158.017
betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über "J. Grimm" (2. Aufl. pba_158.018
Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: "Eine Schöpfung bewußter pba_158.019
Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft pba_158.020
des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor pba_158.021
den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag." pba_158.022
"Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert. pba_158.023
Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und pba_158.024
Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung, pba_158.025
welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht pba_158.026
weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern pba_158.027
schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer pba_158.028
Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt pba_158.029
und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich. pba_158.030
Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer pba_158.031
nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien pba_158.032
teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und pba_158.033
Esthen." pba_158.034
"Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln pba_158.035
schon gegeben, von denen sich lateinische Bearbeitungen früh im Mittelalter verbreiteten. pba_158.036
Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem pba_158.037
Behagen weiter aus..." pba_158.038
"Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten pba_158.039
Grundstocke flossen indische Tierfabeln, mit anderen novellistischen Produkten pba_158.040
in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen pba_158.041
Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der pba_158.042
Dichtung jenen reizenden epischen Ueberfluß, welcher in Jakob Grimms Augen ihr pba_158.043
einen so hohen Vorrang vor der Äsopischen Fabel verlieh, und welchem ihre Einführung pba_158.044
aus der französischen in die deutsche und niederländische Nationallitteratur verdankt wird."

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denkliche, lang hingehaltene, zähe Ueberlieferung, die mächtig genug war, pba_158.002
sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe pba_158.003
der Zeiten anzuschmiegen. Gleich allem Epos, in nie still stehendem pba_158.004
Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen, pba_158.005
und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen pba_158.006
menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und pba_158.007
wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt pba_158.008
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Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als pba_158.011
ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen pba_158.012
gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über pba_158.013
den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und pba_158.014
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Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen pba_158.016
J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden pba_158.017
betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über „J. Grimm“ (2. Aufl. pba_158.018
Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: „Eine Schöpfung bewußter pba_158.019
Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft pba_158.020
des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor pba_158.021
den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag.“ pba_158.022
„Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert. pba_158.023
Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und pba_158.024
Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung, pba_158.025
welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht pba_158.026
weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern pba_158.027
schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer pba_158.028
Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt pba_158.029
und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich. pba_158.030
Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer pba_158.031
nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien pba_158.032
teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und pba_158.033
Esthen.“ pba_158.034
„Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln pba_158.035
schon gegeben, von denen sich lateinische Bearbeitungen früh im Mittelalter verbreiteten. pba_158.036
Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem pba_158.037
Behagen weiter aus...“ pba_158.038
„Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten pba_158.039
Grundstocke flossen indische Tierfabeln, mit anderen novellistischen Produkten pba_158.040
in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen pba_158.041
Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der pba_158.042
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[158/0176] pba_158.001 denkliche, lang hingehaltene, zähe Ueberlieferung, die mächtig genug war, pba_158.002 sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe pba_158.003 der Zeiten anzuschmiegen. Gleich allem Epos, in nie still stehendem pba_158.004 Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen, pba_158.005 und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen pba_158.006 menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und pba_158.007 wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt pba_158.008 Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich pba_158.009 aus und wird nur noch in bröckelhafter Volkssage dahingetragen. pba_158.010 Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als pba_158.011 ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen pba_158.012 gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über pba_158.013 den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und pba_158.014 festigen.“ 1 1 pba_158.015 Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen pba_158.016 J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden pba_158.017 betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über „J. Grimm“ (2. Aufl. pba_158.018 Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: „Eine Schöpfung bewußter pba_158.019 Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft pba_158.020 des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor pba_158.021 den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag.“ pba_158.022 „Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert. pba_158.023 Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und pba_158.024 Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung, pba_158.025 welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht pba_158.026 weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern pba_158.027 schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer pba_158.028 Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt pba_158.029 und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich. pba_158.030 Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer pba_158.031 nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien pba_158.032 teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und pba_158.033 Esthen.“ pba_158.034 „Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln pba_158.035 schon gegeben, von denen sich lateinische Bearbeitungen früh im Mittelalter verbreiteten. pba_158.036 Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem pba_158.037 Behagen weiter aus...“ pba_158.038 „Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten pba_158.039 Grundstocke flossen indische Tierfabeln, mit anderen novellistischen Produkten pba_158.040 in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen pba_158.041 Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der pba_158.042 Dichtung jenen reizenden epischen Ueberfluß, welcher in Jakob Grimms Augen ihr pba_158.043 einen so hohen Vorrang vor der Äsopischen Fabel verlieh, und welchem ihre Einführung pba_158.044 aus der französischen in die deutsche und niederländische Nationallitteratur verdankt wird.“

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/176>, abgerufen am 21.11.2024.