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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Aus dieser rein epischen Auffassung der Fabel ergibt sich für pba_159.002
Grimm die Anwendung der Tiere darin von selbst: "Sobald wir eingelassen pba_159.003
sind in das innere Gebiet der Fabel, beginnt der Zweifel an pba_159.004
dem wirklichen Geschehensein ihrer Ereignisse zu schwinden, wir fühlen pba_159.005
uns so von ihr angezogen und fortgerissen, daß wir den auftretenden pba_159.006
Tieren eine Teilnahme zuwenden, die wenig oder nichts nachgibt derjenigen, pba_159.007
die uns beim rein menschlichen Epos erfüllt. Wir vergessen, pba_159.008
daß die handelnden Personen Tiere sind, wir muten ihnen Pläne, pba_159.009
Schicksale und Gesinnungen der Menschen zu."

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Es ergeben sich daraus zwei wesentliche Merkmale der Tierfabel, pba_159.011
die in der Wirklichkeit zwar sich widerstreiten, aber deren Vereinbarung pba_159.012
die Tierfabel nicht entraten kann: "Einmal sie muß die Tiere darstellen pba_159.013
als seien sie begabt mit menschlicher Vernunft und in alle Gewohnheiten pba_159.014
und Zustände unseres Lebens eingeweiht, so daß ihre Aufführung gar

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Die dieser Hypothese zu Grunde liegenden historischen Thatsachen waren ihrem pba_159.016
wesentlichen Bestande nach J. Grimm bekannt; allein der Umstand, daß einem völligen pba_159.017
Mangel schriftlicher Ueberlieferung aus dem neunten Jahrhundert im zehnten sehr spärliche pba_159.018
lateinische Reste von Tierdichtungen gegenüberstehen, worauf dann im zwölften und pba_159.019
dreizehnten auf einmal eine reiche Fülle solcher Stoffe erscheint, konnte seiner Hypothese pba_159.020
nicht hinderlich sein, sondern hat vielmehr mit dazu beigetragen, sie hervorzubringen. pba_159.021
Man darf nicht übersehen, daß solche negativen Resultate der Forschung, wie sie für pba_159.022
die Vorgeschichte der Tierdichtung vorliegen, mit Sicherheit doch nur erweisen, daß das pba_159.023
Material für die frühere Zeit eben nicht vorhanden ist, mag es nun verloren gegangen pba_159.024
sein oder mag eine feste poetische Tradition überhaupt sich nicht herausgebildet haben. pba_159.025
Dem gegenüber bleibt die Grimmsche Anschauung, die aus dem Wesen der Sache geschöpft pba_159.026
ist, um so mehr in ihrem Rechte, weil eben wegen jenes Mangels der Ueberlieferung pba_159.027
hier eine Hypothese erfordert wird; denn eine solche ist es doch auch nur, pba_159.028
wenn aus dem Grunde, daß die Kunde dieser Entwickelung eine so höchst mangelhafte pba_159.029
ist, der Schluß gezogen wird, die ganze ungeheure Bereicherung der Tiersage im dreizehnten pba_159.030
Jahrhundert sei der bewußten Kunstthätigkeit einzelner Dichter zu danken. pba_159.031
Stellt man sich vor, daß es doch nur Zufälligkeiten waren, die uns die äußerst geringen pba_159.032
Nachrichten über das Vorhandensein alter deutscher Heldenlieder erhalten haben, pba_159.033
und denen wir ferner die ebenfalls im Verhältnis zu dem Sagenmaterial des zwölften pba_159.034
und dreizehnten Jahrhunderts nur spärliche Kunde früherer Entwickelungsstadien desselben pba_159.035
verdanken, und nimmt man nun an, daß diese Zufälle nicht eingetreten wären: pba_159.036
zu welchen Schlüssen würde man dann z. B. in betreff unseres Nibelungenepos gelangen, pba_159.037
wenn man für das Bild, das man sich von dem Werden und Wachsen der pba_159.038
Sage und der Poesie in jenen frühen Zeiten entwirft, jene Methode der Schlußfolgerung, pba_159.039
des quod non est in actis non fuit in mundo, zum Princip erheben wollte! pba_159.040
Ja, man erwäge dafür auch nur einen Vorgang aus neuester Zeit, dessen zu gedenken pba_159.041
hier naheliegt und der sehr lehrreich in dieser Beziehung ist: hätten die Brüder Grimm pba_159.042
die Sammlung der deutschen Volksmärchen nicht unternommen, auf ein wie dürftiges pba_159.043
Maß würde schon heute die Kunde von diesem reichen poetischen Besitz unseres Volkes pba_159.044
reduciert sein

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Aus dieser rein epischen Auffassung der Fabel ergibt sich für pba_159.002
Grimm die Anwendung der Tiere darin von selbst: „Sobald wir eingelassen pba_159.003
sind in das innere Gebiet der Fabel, beginnt der Zweifel an pba_159.004
dem wirklichen Geschehensein ihrer Ereignisse zu schwinden, wir fühlen pba_159.005
uns so von ihr angezogen und fortgerissen, daß wir den auftretenden pba_159.006
Tieren eine Teilnahme zuwenden, die wenig oder nichts nachgibt derjenigen, pba_159.007
die uns beim rein menschlichen Epos erfüllt. Wir vergessen, pba_159.008
daß die handelnden Personen Tiere sind, wir muten ihnen Pläne, pba_159.009
Schicksale und Gesinnungen der Menschen zu.“

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Es ergeben sich daraus zwei wesentliche Merkmale der Tierfabel, pba_159.011
die in der Wirklichkeit zwar sich widerstreiten, aber deren Vereinbarung pba_159.012
die Tierfabel nicht entraten kann: „Einmal sie muß die Tiere darstellen pba_159.013
als seien sie begabt mit menschlicher Vernunft und in alle Gewohnheiten pba_159.014
und Zustände unseres Lebens eingeweiht, so daß ihre Aufführung gar

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Die dieser Hypothese zu Grunde liegenden historischen Thatsachen waren ihrem pba_159.016
wesentlichen Bestande nach J. Grimm bekannt; allein der Umstand, daß einem völligen pba_159.017
Mangel schriftlicher Ueberlieferung aus dem neunten Jahrhundert im zehnten sehr spärliche pba_159.018
lateinische Reste von Tierdichtungen gegenüberstehen, worauf dann im zwölften und pba_159.019
dreizehnten auf einmal eine reiche Fülle solcher Stoffe erscheint, konnte seiner Hypothese pba_159.020
nicht hinderlich sein, sondern hat vielmehr mit dazu beigetragen, sie hervorzubringen. pba_159.021
Man darf nicht übersehen, daß solche negativen Resultate der Forschung, wie sie für pba_159.022
die Vorgeschichte der Tierdichtung vorliegen, mit Sicherheit doch nur erweisen, daß das pba_159.023
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sein oder mag eine feste poetische Tradition überhaupt sich nicht herausgebildet haben. pba_159.025
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ist, der Schluß gezogen wird, die ganze ungeheure Bereicherung der Tiersage im dreizehnten pba_159.030
Jahrhundert sei der bewußten Kunstthätigkeit einzelner Dichter zu danken. pba_159.031
Stellt man sich vor, daß es doch nur Zufälligkeiten waren, die uns die äußerst geringen pba_159.032
Nachrichten über das Vorhandensein alter deutscher Heldenlieder erhalten haben, pba_159.033
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verdanken, und nimmt man nun an, daß diese Zufälle nicht eingetreten wären: pba_159.036
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wenn man für das Bild, das man sich von dem Werden und Wachsen der pba_159.038
Sage und der Poesie in jenen frühen Zeiten entwirft, jene Methode der Schlußfolgerung, pba_159.039
des quod non est in actis non fuit in mundo, zum Princip erheben wollte! pba_159.040
Ja, man erwäge dafür auch nur einen Vorgang aus neuester Zeit, dessen zu gedenken pba_159.041
hier naheliegt und der sehr lehrreich in dieser Beziehung ist: hätten die Brüder Grimm pba_159.042
die Sammlung der deutschen Volksmärchen nicht unternommen, auf ein wie dürftiges pba_159.043
Maß würde schon heute die Kunde von diesem reichen poetischen Besitz unseres Volkes pba_159.044
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[159/0177] pba_159.001 Aus dieser rein epischen Auffassung der Fabel ergibt sich für pba_159.002 Grimm die Anwendung der Tiere darin von selbst: „Sobald wir eingelassen pba_159.003 sind in das innere Gebiet der Fabel, beginnt der Zweifel an pba_159.004 dem wirklichen Geschehensein ihrer Ereignisse zu schwinden, wir fühlen pba_159.005 uns so von ihr angezogen und fortgerissen, daß wir den auftretenden pba_159.006 Tieren eine Teilnahme zuwenden, die wenig oder nichts nachgibt derjenigen, pba_159.007 die uns beim rein menschlichen Epos erfüllt. Wir vergessen, pba_159.008 daß die handelnden Personen Tiere sind, wir muten ihnen Pläne, pba_159.009 Schicksale und Gesinnungen der Menschen zu.“ pba_159.010 Es ergeben sich daraus zwei wesentliche Merkmale der Tierfabel, pba_159.011 die in der Wirklichkeit zwar sich widerstreiten, aber deren Vereinbarung pba_159.012 die Tierfabel nicht entraten kann: „Einmal sie muß die Tiere darstellen pba_159.013 als seien sie begabt mit menschlicher Vernunft und in alle Gewohnheiten pba_159.014 und Zustände unseres Lebens eingeweiht, so daß ihre Aufführung gar 1 1 pba_159.015 Die dieser Hypothese zu Grunde liegenden historischen Thatsachen waren ihrem pba_159.016 wesentlichen Bestande nach J. Grimm bekannt; allein der Umstand, daß einem völligen pba_159.017 Mangel schriftlicher Ueberlieferung aus dem neunten Jahrhundert im zehnten sehr spärliche pba_159.018 lateinische Reste von Tierdichtungen gegenüberstehen, worauf dann im zwölften und pba_159.019 dreizehnten auf einmal eine reiche Fülle solcher Stoffe erscheint, konnte seiner Hypothese pba_159.020 nicht hinderlich sein, sondern hat vielmehr mit dazu beigetragen, sie hervorzubringen. pba_159.021 Man darf nicht übersehen, daß solche negativen Resultate der Forschung, wie sie für pba_159.022 die Vorgeschichte der Tierdichtung vorliegen, mit Sicherheit doch nur erweisen, daß das pba_159.023 Material für die frühere Zeit eben nicht vorhanden ist, mag es nun verloren gegangen pba_159.024 sein oder mag eine feste poetische Tradition überhaupt sich nicht herausgebildet haben. pba_159.025 Dem gegenüber bleibt die Grimmsche Anschauung, die aus dem Wesen der Sache geschöpft pba_159.026 ist, um so mehr in ihrem Rechte, weil eben wegen jenes Mangels der Ueberlieferung pba_159.027 hier eine Hypothese erfordert wird; denn eine solche ist es doch auch nur, pba_159.028 wenn aus dem Grunde, daß die Kunde dieser Entwickelung eine so höchst mangelhafte pba_159.029 ist, der Schluß gezogen wird, die ganze ungeheure Bereicherung der Tiersage im dreizehnten pba_159.030 Jahrhundert sei der bewußten Kunstthätigkeit einzelner Dichter zu danken. pba_159.031 Stellt man sich vor, daß es doch nur Zufälligkeiten waren, die uns die äußerst geringen pba_159.032 Nachrichten über das Vorhandensein alter deutscher Heldenlieder erhalten haben, pba_159.033 und denen wir ferner die ebenfalls im Verhältnis zu dem Sagenmaterial des zwölften pba_159.034 und dreizehnten Jahrhunderts nur spärliche Kunde früherer Entwickelungsstadien desselben pba_159.035 verdanken, und nimmt man nun an, daß diese Zufälle nicht eingetreten wären: pba_159.036 zu welchen Schlüssen würde man dann z. B. in betreff unseres Nibelungenepos gelangen, pba_159.037 wenn man für das Bild, das man sich von dem Werden und Wachsen der pba_159.038 Sage und der Poesie in jenen frühen Zeiten entwirft, jene Methode der Schlußfolgerung, pba_159.039 des quod non est in actis non fuit in mundo, zum Princip erheben wollte! pba_159.040 Ja, man erwäge dafür auch nur einen Vorgang aus neuester Zeit, dessen zu gedenken pba_159.041 hier naheliegt und der sehr lehrreich in dieser Beziehung ist: hätten die Brüder Grimm pba_159.042 die Sammlung der deutschen Volksmärchen nicht unternommen, auf ein wie dürftiges pba_159.043 Maß würde schon heute die Kunde von diesem reichen poetischen Besitz unseres Volkes pba_159.044 reduciert sein

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/177>, abgerufen am 24.11.2024.