Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_195.001 pba_195.021 pba_195.031 1 pba_195.035
Damit steht die Lehre Kants in voller Übereinstimmung: vgl. Kritik der pba_195.036 reinen Vernunft, I. Abth., 1. Buch, 1. Abschn. (Ausg von R. und Sch. Bd. II, pba_195.037 S. 258): "Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der pba_195.038 reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen pba_195.039 Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit pba_195.040 der Erfahrung übersteigt, ist die Jdee oder der Vernunftbegriff." pba_195.001 pba_195.021 pba_195.031 1 pba_195.035
Damit steht die Lehre Kants in voller Übereinstimmung: vgl. Kritik der pba_195.036 reinen Vernunft, I. Abth., 1. Buch, 1. Abschn. (Ausg von R. und Sch. Bd. II, pba_195.037 S. 258): „Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der pba_195.038 reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen pba_195.039 Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit pba_195.040 der Erfahrung übersteigt, ist die Jdee oder der Vernunftbegriff.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0213" n="195"/><lb n="pba_195.001"/> diesen zu noch weiter umfassenden Gesamtbegriffen. Hier ist überall auf <lb n="pba_195.002"/> Erfahrung gegründete Bestimmtheit und Klarheit vorhanden, und der <lb n="pba_195.003"/> sprachliche Ausdruck stellt den Gedanken vollständig dar. Jndem wir <lb n="pba_195.004"/> nun aber zu den höchsten Vorstellungen vorschreiten, gewahren wir, daß <lb n="pba_195.005"/> jene begrifflichen Feststellungen wohl geeignet sind zur Kennzeichnung <lb n="pba_195.006"/> und Unterscheidung derselben zu dienen, aber keineswegs vermögend ihr <lb n="pba_195.007"/> Wesen zu erschöpfen. Weite Gebiete des Gefühls und auch der Erfahrung <lb n="pba_195.008"/> sind der deutlichen Erkenntnis verschlossen, und die Vernunft erkennt <lb n="pba_195.009"/> die Existenz und unaufhörliche Wirksamkeit von Mächten an, die <lb n="pba_195.010"/> dem Verstande unfaßbar und „unbegreiflich“ sind. So ist gerade die <lb n="pba_195.011"/> Thätigkeit des Verstandes, welche die <hi rendition="#g">vollständige Summe</hi> der Erfahrung <lb n="pba_195.012"/> zu <hi rendition="#g">Begriffen</hi> vereinigt, am besten wirksam zu erweisen, daß <lb n="pba_195.013"/> die bessere und größere Hälfte der Erkenntnis darüber hinaus noch übrig <lb n="pba_195.014"/> bleibt für die bloßen „Schlüsse“ der <hi rendition="#g">Vernunft,</hi> für das <hi rendition="#g">Urteil der <lb n="pba_195.015"/> Empfindung,</hi> und weiter hinaus statt der Erkenntnis für die <hi rendition="#g">Ahnung</hi> <lb n="pba_195.016"/> und den <hi rendition="#g">Glauben.</hi><note xml:id="pba_195_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_195.035"/> Damit steht die Lehre <hi rendition="#g">Kants</hi> in voller Übereinstimmung: vgl. <hi rendition="#g">Kritik der <lb n="pba_195.036"/> reinen Vernunft</hi>, I. Abth., 1. Buch, 1. Abschn. (Ausg von R. und Sch. Bd. II, <lb n="pba_195.037"/> S. 258): „Der Begriff ist entweder ein <hi rendition="#g">empirischer</hi> oder <hi rendition="#g">reiner Begriff,</hi> und der <lb n="pba_195.038"/> reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen <lb n="pba_195.039"/> Bilde der Sinnlichkeit), heißt <hi rendition="#g">Notio</hi>. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit <lb n="pba_195.040"/> der Erfahrung übersteigt, ist die <hi rendition="#g">Jdee</hi> oder der Vernunftbegriff.“</note> Daraus ergibt sich, daß, wer diese Thatsache <lb n="pba_195.017"/> nicht anerkennt, notwendig auch zu begrifflichem Jrrtum gelangen muß, <lb n="pba_195.018"/> eine Beobachtung, der gleichfalls Goethe den schlagenden Ausdruck verliehen <lb n="pba_195.019"/> hat: „<hi rendition="#g">Wer sich vor der Jdee scheut, hat auch zuletzt den <lb n="pba_195.020"/> Begriff nicht mehr.</hi>“</p> <p><lb n="pba_195.021"/> Die Sprache gibt diesen „<hi rendition="#g">Jdeen</hi>“ Namen, aber diese Namen bezeichnen <lb n="pba_195.022"/> sie nur, ohne daß sie vollständig erklärt werden könnten; auch <lb n="pba_195.023"/> kann keine Erfahrung ihnen jemals vollständig entsprechen: sie gehen als <lb n="pba_195.024"/> das „<hi rendition="#g">Resultat</hi>“ aus der Summe der Manifestationen hervor, in denen <lb n="pba_195.025"/> ihr Wesen sich offenbart. Da sie aber in ihrem Wesen insofern alle <lb n="pba_195.026"/> verwandt sind, als sie alle auf eine gemeinsame Quelle hinweisen, so <lb n="pba_195.027"/> gelangt eine konsequente Betrachtung dazu, sich die Jdee überhaupt als <lb n="pba_195.028"/> eine „ewige und einzige“ vorzustellen, von der die „einzelnen“ Jdeen, <lb n="pba_195.029"/> von denen unser Sprachgebrauch redet, nur die Emanationen sind und <lb n="pba_195.030"/> zu der sie immer in Beziehung gedacht werden müssen.</p> <p><lb n="pba_195.031"/> Wenn also das Höchste in den Dingen und ihre <hi rendition="#g">eigentliche <lb n="pba_195.032"/> Vollständigkeit</hi> niemals begrifflich festgestellt und überhaupt niemals <lb n="pba_195.033"/> ganz ausgesprochen werden kann, sondern die Vorstellung davon nur im <lb n="pba_195.034"/> Ahnen, Glauben und Fühlen als Thatsache vorhanden ist, so ist es klar, </p> </div> </body> </text> </TEI> [195/0213]
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diesen zu noch weiter umfassenden Gesamtbegriffen. Hier ist überall auf pba_195.002
Erfahrung gegründete Bestimmtheit und Klarheit vorhanden, und der pba_195.003
sprachliche Ausdruck stellt den Gedanken vollständig dar. Jndem wir pba_195.004
nun aber zu den höchsten Vorstellungen vorschreiten, gewahren wir, daß pba_195.005
jene begrifflichen Feststellungen wohl geeignet sind zur Kennzeichnung pba_195.006
und Unterscheidung derselben zu dienen, aber keineswegs vermögend ihr pba_195.007
Wesen zu erschöpfen. Weite Gebiete des Gefühls und auch der Erfahrung pba_195.008
sind der deutlichen Erkenntnis verschlossen, und die Vernunft erkennt pba_195.009
die Existenz und unaufhörliche Wirksamkeit von Mächten an, die pba_195.010
dem Verstande unfaßbar und „unbegreiflich“ sind. So ist gerade die pba_195.011
Thätigkeit des Verstandes, welche die vollständige Summe der Erfahrung pba_195.012
zu Begriffen vereinigt, am besten wirksam zu erweisen, daß pba_195.013
die bessere und größere Hälfte der Erkenntnis darüber hinaus noch übrig pba_195.014
bleibt für die bloßen „Schlüsse“ der Vernunft, für das Urteil der pba_195.015
Empfindung, und weiter hinaus statt der Erkenntnis für die Ahnung pba_195.016
und den Glauben. 1 Daraus ergibt sich, daß, wer diese Thatsache pba_195.017
nicht anerkennt, notwendig auch zu begrifflichem Jrrtum gelangen muß, pba_195.018
eine Beobachtung, der gleichfalls Goethe den schlagenden Ausdruck verliehen pba_195.019
hat: „Wer sich vor der Jdee scheut, hat auch zuletzt den pba_195.020
Begriff nicht mehr.“
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Die Sprache gibt diesen „Jdeen“ Namen, aber diese Namen bezeichnen pba_195.022
sie nur, ohne daß sie vollständig erklärt werden könnten; auch pba_195.023
kann keine Erfahrung ihnen jemals vollständig entsprechen: sie gehen als pba_195.024
das „Resultat“ aus der Summe der Manifestationen hervor, in denen pba_195.025
ihr Wesen sich offenbart. Da sie aber in ihrem Wesen insofern alle pba_195.026
verwandt sind, als sie alle auf eine gemeinsame Quelle hinweisen, so pba_195.027
gelangt eine konsequente Betrachtung dazu, sich die Jdee überhaupt als pba_195.028
eine „ewige und einzige“ vorzustellen, von der die „einzelnen“ Jdeen, pba_195.029
von denen unser Sprachgebrauch redet, nur die Emanationen sind und pba_195.030
zu der sie immer in Beziehung gedacht werden müssen.
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Wenn also das Höchste in den Dingen und ihre eigentliche pba_195.032
Vollständigkeit niemals begrifflich festgestellt und überhaupt niemals pba_195.033
ganz ausgesprochen werden kann, sondern die Vorstellung davon nur im pba_195.034
Ahnen, Glauben und Fühlen als Thatsache vorhanden ist, so ist es klar,
1 pba_195.035
Damit steht die Lehre Kants in voller Übereinstimmung: vgl. Kritik der pba_195.036
reinen Vernunft, I. Abth., 1. Buch, 1. Abschn. (Ausg von R. und Sch. Bd. II, pba_195.037
S. 258): „Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der pba_195.038
reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen pba_195.039
Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit pba_195.040
der Erfahrung übersteigt, ist die Jdee oder der Vernunftbegriff.“
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