pba_239.001 der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist pba_239.002 im Grunde keins, die Thätigkeit des "Urteilens" findet dabei eben nicht pba_239.003 statt. Die Bezeichnung ist von der Analogie hergenommen, daß von pba_239.004 zweien oder mehr Empfindungen, die bei einem Anlasse möglich wären, pba_239.005 die eine wirklich eintritt, also eine Entscheidung für dieselbe getroffen pba_239.006 wird. Der Unterschied aber, um dessentwillen jene Bezeichnung doch pba_239.007 wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine pba_239.008 Wahl zwischen jenen möglichen Empfindungen bei dem sogenannten pba_239.009 "ästhetischen" Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner pba_239.010 Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar, pba_239.011 ohne Jnteresse, ohne Gründe, von selbst mit Bestimmtheit erfolgenden pba_239.012 Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil pba_239.013 nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten pba_239.014 der Empfindung ist, außer von der Natur der "ästhetischen" pba_239.015 Wahrnehmung, welche den Anlaß gibt, von zwei subjektiven Faktoren pba_239.016 abhängig: von der Empfindungsanlage des Wahrnehmenden (seiner pba_239.017 dunamis pathetike) -- nach welcher er zu dieser oder jener Art zu pba_239.018 empfinden von Natur mehr oder weniger geneigt ist -- und von der pba_239.019 durch Gewohnheit, Erziehung, Bildung, überhaupt durch die Gesamtentwickelung pba_239.020 erworbenen ständigen Beschaffenheit seines Empfindens pba_239.021 (seiner exis pathetike). Diese letztere ist die Grundlage für die im pba_239.022 Entschließen und Handeln sich äußernde Gesinnungsweise und Gemütsart, pba_239.023 das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die pba_239.024 ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen pba_239.025 vorhandenen Ethos sein.
pba_239.026 Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichenpba_239.027 gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne pba_239.028 Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit pba_239.029 oder Deformität, die weder Schmerz noch Schaden mit sich bringt. Wie pba_239.030 aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung? pba_239.031 Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar pba_239.032 und mühelos -- und deshalb immer überraschend -- gewonnenen pba_239.033 Klarheit des Erkennens, welche mit der Konstatierung des Fehlerhaften pba_239.034 als solchem notwendig verbunden ist: mit dieser Thätigkeit muß, je reiner pba_239.035 sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein. pba_239.036 Von dieser Erkenntnisfreude kann bei dem ästhetischen Urteil nicht die pba_239.037 Rede sein, denn es ist ja kein eigentliches Urteil; es handelt sich bei ihm pba_239.038 keineswegs um das Wahre und Falsche, Verkehrte oder Rechte, sondern pba_239.039 um das Wohlgefällige oder Mißfällige, das Unangenehme, pba_239.040 Widrige oder Angenehme, Erfreuliche: denn einerseits unterscheiden
pba_239.001 der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist pba_239.002 im Grunde keins, die Thätigkeit des „Urteilens“ findet dabei eben nicht pba_239.003 statt. Die Bezeichnung ist von der Analogie hergenommen, daß von pba_239.004 zweien oder mehr Empfindungen, die bei einem Anlasse möglich wären, pba_239.005 die eine wirklich eintritt, also eine Entscheidung für dieselbe getroffen pba_239.006 wird. Der Unterschied aber, um dessentwillen jene Bezeichnung doch pba_239.007 wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine pba_239.008 Wahl zwischen jenen möglichen Empfindungen bei dem sogenannten pba_239.009 „ästhetischen“ Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner pba_239.010 Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar, pba_239.011 ohne Jnteresse, ohne Gründe, von selbst mit Bestimmtheit erfolgenden pba_239.012 Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil pba_239.013 nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten pba_239.014 der Empfindung ist, außer von der Natur der „ästhetischen“ pba_239.015 Wahrnehmung, welche den Anlaß gibt, von zwei subjektiven Faktoren pba_239.016 abhängig: von der Empfindungsanlage des Wahrnehmenden (seiner pba_239.017 δύναμις παθητική) — nach welcher er zu dieser oder jener Art zu pba_239.018 empfinden von Natur mehr oder weniger geneigt ist — und von der pba_239.019 durch Gewohnheit, Erziehung, Bildung, überhaupt durch die Gesamtentwickelung pba_239.020 erworbenen ständigen Beschaffenheit seines Empfindens pba_239.021 (seiner ἕξις παθητική). Diese letztere ist die Grundlage für die im pba_239.022 Entschließen und Handeln sich äußernde Gesinnungsweise und Gemütsart, pba_239.023 das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die pba_239.024 ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen pba_239.025 vorhandenen Ethos sein.
pba_239.026 Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichenpba_239.027 gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne pba_239.028 Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit pba_239.029 oder Deformität, die weder Schmerz noch Schaden mit sich bringt. Wie pba_239.030 aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung? pba_239.031 Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar pba_239.032 und mühelos — und deshalb immer überraschend — gewonnenen pba_239.033 Klarheit des Erkennens, welche mit der Konstatierung des Fehlerhaften pba_239.034 als solchem notwendig verbunden ist: mit dieser Thätigkeit muß, je reiner pba_239.035 sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein. pba_239.036 Von dieser Erkenntnisfreude kann bei dem ästhetischen Urteil nicht die pba_239.037 Rede sein, denn es ist ja kein eigentliches Urteil; es handelt sich bei ihm pba_239.038 keineswegs um das Wahre und Falsche, Verkehrte oder Rechte, sondern pba_239.039 um das Wohlgefällige oder Mißfällige, das Unangenehme, pba_239.040 Widrige oder Angenehme, Erfreuliche: denn einerseits unterscheiden
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der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist pba_239.002
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wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine pba_239.008
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„ästhetischen“ Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner pba_239.010
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/257>, abgerufen am 22.11.2024.
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