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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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viel umstrittene Satz im 24. Kapitel der Aristotelischen Poetik, wo der pba_260.002
Jlias ein "pathetischer", der Odyssee ein "ethischer" Gesamtcharakter pba_260.003
zugeschrieben wird, auf diesem Wege seine einfache Erklärung pba_260.004
findet. Ganz in der geschilderten Weise handelte der Homerische Achilleus, pba_260.005
durchweg durch leidenschaftliche Jmpulse bestimmt, so wie Horaz ihn geschildert pba_260.006
wissen will:

pba_260.007
Impiger, iracundus, inexorabilis, acer pba_260.008
Jura neget sibi nata, nihil non arroget armis.
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Und, wie er, so handelt die Mehrzahl der griechischen Helden in der pba_260.010
Jlias; der gesamte äußere Verlauf der Ereignisse vom ersten Anbeginn pba_260.011
bis zum Schlusse des in seinem Gesamtplan zu wundervoller Einheit pba_260.012
gefügten Gedichtes erhält dadurch den Grundcharakter dessen, was pba_260.013
Aristoteles das "Pathetische" nennt, nämlich des Leidvollen, Gewaltsamen, pba_260.014
Verderblich-Schmerzlichen.
Jm scharfen Unterschiede pba_260.015
hiervon ist in der Odyssee das den Helden erfüllende Ethos bestimmend pba_260.016
nicht allein für alle seine Handlungen, sondern auch für das Ganze pba_260.017
und die Einzelnheiten des Verlaufs der Gesamthandlung, nicht minder pba_260.018
ist in allen übrigen, das Wesentliche dieses Verlaufs mitbestimmenden pba_260.019
Hauptfiguren das sie ihrerseits in ihren Haudlungen überall bestimmende pba_260.020
Ethos entscheidend für den Gang und die endliche Entwickelung des pba_260.021
Gedichtes: es würde genügen, nur Penelope, Telemach, Eumäos pba_260.022
zu nennen, aber auch die Art, wie die meisten Nebenpersonen in die pba_260.023
Handlung eingreifen, ist ebenso als ganz überwiegend durch das einer pba_260.024
jeden von ihnen eigene Ethos diktiert zu bezeichnen; natürlich keineswegs pba_260.025
alles und jedes, was in der Odyssee vorkommt, ebensowenig wie pba_260.026
alles nur in der Jlias pathetischen Charakters sein müßte. Solche pba_260.027
Einseitigkeit wäre gegen die Natur der Dinge, sie ist auch in dem pba_260.028
Aristotelischen Urteil nicht behauptet; was gleichwohl dieses Urteil zu pba_260.029
bedeuten hat, tritt noch mehr hervor, wenn man aus den Gesichtspunkten, pba_260.030
nach denen sich die beiden griechischen Epen so klar voneinander pba_260.031
scheiden, unser deutscher Nationalepos betrachtet: es ergibt sich, daß im pba_260.032
Gegensatze zur Jlias und zur Odyssee die Nibelungen weder den pba_260.033
einen noch den andern Gattungscharakter tragen, sondern daß beide pba_260.034
in den Hauptpersonen und in deren entscheidenden einzelnen Handlungen pba_260.035
in gleichem Maße vertreten sind, ebenso auch im Verlaufe und der pba_260.036
endlichen Entwickelung des Ganzen eine ebenmäßige, höchst kunstvoll verwebte pba_260.037
Verbindung von beiden, daß sie somit nach dieser einen, aber pba_260.038
sehr wesentlichen, Seite
einen noch höheren Rang behaupten, daß pba_260.039
sie noch reicheren und lebensvolleren Gehalt, noch tiefere und universellere

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viel umstrittene Satz im 24. Kapitel der Aristotelischen Poetik, wo der pba_260.002
Jlias ein „pathetischer“, der Odyssee ein „ethischer“ Gesamtcharakter pba_260.003
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durchweg durch leidenschaftliche Jmpulse bestimmt, so wie Horaz ihn geschildert pba_260.006
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Jura neget sibi nata, nihil non arroget armis.
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Jlias; der gesamte äußere Verlauf der Ereignisse vom ersten Anbeginn pba_260.011
bis zum Schlusse des in seinem Gesamtplan zu wundervoller Einheit pba_260.012
gefügten Gedichtes erhält dadurch den Grundcharakter dessen, was pba_260.013
Aristoteles das „Pathetische“ nennt, nämlich des Leidvollen, Gewaltsamen, pba_260.014
Verderblich-Schmerzlichen.
Jm scharfen Unterschiede pba_260.015
hiervon ist in der Odyssee das den Helden erfüllende Ethos bestimmend pba_260.016
nicht allein für alle seine Handlungen, sondern auch für das Ganze pba_260.017
und die Einzelnheiten des Verlaufs der Gesamthandlung, nicht minder pba_260.018
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Ethos entscheidend für den Gang und die endliche Entwickelung des pba_260.021
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jeden von ihnen eigene Ethos diktiert zu bezeichnen; natürlich keineswegs pba_260.025
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Einseitigkeit wäre gegen die Natur der Dinge, sie ist auch in dem pba_260.028
Aristotelischen Urteil nicht behauptet; was gleichwohl dieses Urteil zu pba_260.029
bedeuten hat, tritt noch mehr hervor, wenn man aus den Gesichtspunkten, pba_260.030
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Gegensatze zur Jlias und zur Odyssee die Nibelungen weder den pba_260.033
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[260/0278] pba_260.001 viel umstrittene Satz im 24. Kapitel der Aristotelischen Poetik, wo der pba_260.002 Jlias ein „pathetischer“, der Odyssee ein „ethischer“ Gesamtcharakter pba_260.003 zugeschrieben wird, auf diesem Wege seine einfache Erklärung pba_260.004 findet. Ganz in der geschilderten Weise handelte der Homerische Achilleus, pba_260.005 durchweg durch leidenschaftliche Jmpulse bestimmt, so wie Horaz ihn geschildert pba_260.006 wissen will: pba_260.007 Impiger, iracundus, inexorabilis, acer pba_260.008 Jura neget sibi nata, nihil non arroget armis. pba_260.009 Und, wie er, so handelt die Mehrzahl der griechischen Helden in der pba_260.010 Jlias; der gesamte äußere Verlauf der Ereignisse vom ersten Anbeginn pba_260.011 bis zum Schlusse des in seinem Gesamtplan zu wundervoller Einheit pba_260.012 gefügten Gedichtes erhält dadurch den Grundcharakter dessen, was pba_260.013 Aristoteles das „Pathetische“ nennt, nämlich des Leidvollen, Gewaltsamen, pba_260.014 Verderblich-Schmerzlichen. Jm scharfen Unterschiede pba_260.015 hiervon ist in der Odyssee das den Helden erfüllende Ethos bestimmend pba_260.016 nicht allein für alle seine Handlungen, sondern auch für das Ganze pba_260.017 und die Einzelnheiten des Verlaufs der Gesamthandlung, nicht minder pba_260.018 ist in allen übrigen, das Wesentliche dieses Verlaufs mitbestimmenden pba_260.019 Hauptfiguren das sie ihrerseits in ihren Haudlungen überall bestimmende pba_260.020 Ethos entscheidend für den Gang und die endliche Entwickelung des pba_260.021 Gedichtes: es würde genügen, nur Penelope, Telemach, Eumäos pba_260.022 zu nennen, aber auch die Art, wie die meisten Nebenpersonen in die pba_260.023 Handlung eingreifen, ist ebenso als ganz überwiegend durch das einer pba_260.024 jeden von ihnen eigene Ethos diktiert zu bezeichnen; natürlich keineswegs pba_260.025 alles und jedes, was in der Odyssee vorkommt, ebensowenig wie pba_260.026 alles nur in der Jlias pathetischen Charakters sein müßte. Solche pba_260.027 Einseitigkeit wäre gegen die Natur der Dinge, sie ist auch in dem pba_260.028 Aristotelischen Urteil nicht behauptet; was gleichwohl dieses Urteil zu pba_260.029 bedeuten hat, tritt noch mehr hervor, wenn man aus den Gesichtspunkten, pba_260.030 nach denen sich die beiden griechischen Epen so klar voneinander pba_260.031 scheiden, unser deutscher Nationalepos betrachtet: es ergibt sich, daß im pba_260.032 Gegensatze zur Jlias und zur Odyssee die Nibelungen weder den pba_260.033 einen noch den andern Gattungscharakter tragen, sondern daß beide pba_260.034 in den Hauptpersonen und in deren entscheidenden einzelnen Handlungen pba_260.035 in gleichem Maße vertreten sind, ebenso auch im Verlaufe und der pba_260.036 endlichen Entwickelung des Ganzen eine ebenmäßige, höchst kunstvoll verwebte pba_260.037 Verbindung von beiden, daß sie somit nach dieser einen, aber pba_260.038 sehr wesentlichen, Seite einen noch höheren Rang behaupten, daß pba_260.039 sie noch reicheren und lebensvolleren Gehalt, noch tiefere und universellere

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/278>, abgerufen am 22.11.2024.