Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_261.001 pba_261.003 pba_261.005 pba_261.007 pba_261.008 pba_261.015 "Das hab' ich böslich vor euch verleugnet, nehmt!" pba_261.030
Den Räubern aber wird's wunderlich im Kopf, pba_261.031 Sie möchten lachen und spotten ob dem Tropf; pba_261.032 Und ihre Lippe findet doch keinen Laut, pba_261.033 Und ihr vertrocknetes, starres Auge taut. pba_261.034 Und in dem bleiernen Schlummer, den er schlief, pba_261.035 Regt sich in ihnen plötzlich der Jmp'rativ, pba_261.036 Der wunderbare, das heil'ge Gebot: "Du sollt -- pba_261.037 Du sollt nicht stehlen!" und vor der Hand voll Gold pba_261.038 Aufspringen sie, dann werfen sich all' aufs Knie, pba_261.039 Ein tiefes Schweigen waltet; denn Gott ist hie. 1 pba_261.040
Vgl. die nähere Ausführung über das Nibelungenlied, S. 292 ff. pba_261.001 pba_261.003 pba_261.005 pba_261.007 pba_261.008 pba_261.015 „Das hab' ich böslich vor euch verleugnet, nehmt!“ pba_261.030
Den Räubern aber wird's wunderlich im Kopf, pba_261.031 Sie möchten lachen und spotten ob dem Tropf; pba_261.032 Und ihre Lippe findet doch keinen Laut, pba_261.033 Und ihr vertrocknetes, starres Auge taut. pba_261.034 Und in dem bleiernen Schlummer, den er schlief, pba_261.035 Regt sich in ihnen plötzlich der Jmp'rativ, pba_261.036 Der wunderbare, das heil'ge Gebot: „Du sollt — pba_261.037 Du sollt nicht stehlen!“ und vor der Hand voll Gold pba_261.038 Aufspringen sie, dann werfen sich all' aufs Knie, pba_261.039 Ein tiefes Schweigen waltet; denn Gott ist hie. 1 pba_261.040
Vgl. die nähere Ausführung über das Nibelungenlied, S. 292 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0279" n="261"/><lb n="pba_261.001"/> Bedeutung haben als ihre griechischen, in so vieler Hinsicht hoch über <lb n="pba_261.002"/> ihnen stehenden, Rivalen.<note xml:id="pba_261_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_261.040"/> Vgl. die nähere Ausführung über das Nibelungenlied, S. 292 ff.</note></p> <p><lb n="pba_261.003"/> Demnach kommt es also für die epische Erzählung in erster Linie <lb n="pba_261.004"/> darauf an:</p> <p><lb n="pba_261.005"/> für die Darstellung solche <hi rendition="#g">pathetischen</hi> oder <hi rendition="#g">ethischen</hi> oder <lb n="pba_261.006"/> <hi rendition="#g">ethisch-pathetischen</hi> Handlungen <hi rendition="#g">auszuwählen;</hi></p> <p><lb n="pba_261.007"/> sodann aber:</p> <p><lb n="pba_261.008"/> Handlungen, welche weder das eine noch das andre im vollen <lb n="pba_261.009"/> Maße sind, nur insoweit für die Darstellung zu erwählen, <hi rendition="#g">als sie von <lb n="pba_261.010"/> jener Seite sich auffassen und vorführen lassen,</hi> dagegen die <lb n="pba_261.011"/> <hi rendition="#g">Verstandesreflexion</hi> und die <hi rendition="#g">moralische Erwägung</hi> als der <lb n="pba_261.012"/> epischen und überhaupt der poetischen Darstellung widerstrebend <hi rendition="#g">derselben <lb n="pba_261.013"/> ferne zu halten,</hi> es sei denn, daß sie als dienende Glieder <lb n="pba_261.014"/> in Nebenhandlungen zur Verwendung kommen.</p> <p><lb n="pba_261.015"/> Einige Beispiele mögen den Satz bekräftigen. Von <hi rendition="#g">Gustav <lb n="pba_261.016"/> Schwab</hi> gibt es eine poetische Erzählung „<hi rendition="#g">Johannes Kant</hi>“, der <lb n="pba_261.017"/> lange ehe Jmmanuel Kant „den kategorischen Jmperativus fand, dem <lb n="pba_261.018"/> kategorischen Jmperativus treu, zwang durch ihn wilde Seelen zu frommer <lb n="pba_261.019"/> Scheu“. Dieser, ein Krakauer <foreign xml:lang="lat">Doctor theologiae</foreign>, ein Mann „von reinem <lb n="pba_261.020"/> Gemüt und immer gleichem Sinn,“ zog im Alter zum Besuch seiner <lb n="pba_261.021"/> schlesischen Heimat aus. Mitten im wilden Walde wird er von Räubern <lb n="pba_261.022"/> angefallen und beraubt. Nachdem sie ihm sein Pferd, seine Barschaft <lb n="pba_261.023"/> und alles Wertvolle, was er an sich hat, weggenommen, lassen sie ihn <lb n="pba_261.024"/> laufen, da er versichert, nichts weiter zu besitzen. Doch, da er entronnen, <lb n="pba_261.025"/> fällt es ihm auf die Seele, daß „in seiner Kutte vorderm <lb n="pba_261.026"/> Saum“ noch „der güldene Sparpfennig sich versteckt“. Der Gewissensvorwurf <lb n="pba_261.027"/> der begangenen Lüge treibt ihn zu den Räubern zurück, sein <lb n="pba_261.028"/> Unrecht gut zu machen:</p> <lb n="pba_261.029"/> <lg> <l>„Das hab' ich böslich vor euch verleugnet, nehmt!“</l> <lb n="pba_261.030"/> <l>Den Räubern aber wird's wunderlich im Kopf,</l> <lb n="pba_261.031"/> <l>Sie möchten lachen und spotten ob dem Tropf;</l> <lb n="pba_261.032"/> <l>Und ihre Lippe findet doch keinen Laut,</l> <lb n="pba_261.033"/> <l>Und ihr vertrocknetes, starres Auge taut.</l> <lb n="pba_261.034"/> <l>Und in dem bleiernen Schlummer, den er schlief,</l> <lb n="pba_261.035"/> <l>Regt sich in ihnen plötzlich der Jmp'rativ,</l> <lb n="pba_261.036"/> <l>Der wunderbare, das heil'ge Gebot: „Du sollt —</l> <lb n="pba_261.037"/> <l>Du sollt nicht stehlen!“ und vor der Hand voll Gold</l> <lb n="pba_261.038"/> <l>Aufspringen sie, dann werfen sich all' aufs Knie,</l> <lb n="pba_261.039"/> <l>Ein tiefes Schweigen waltet; denn Gott ist hie.</l> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [261/0279]
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Bedeutung haben als ihre griechischen, in so vieler Hinsicht hoch über pba_261.002
ihnen stehenden, Rivalen. 1
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Demnach kommt es also für die epische Erzählung in erster Linie pba_261.004
darauf an:
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für die Darstellung solche pathetischen oder ethischen oder pba_261.006
ethisch-pathetischen Handlungen auszuwählen;
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sodann aber:
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Handlungen, welche weder das eine noch das andre im vollen pba_261.009
Maße sind, nur insoweit für die Darstellung zu erwählen, als sie von pba_261.010
jener Seite sich auffassen und vorführen lassen, dagegen die pba_261.011
Verstandesreflexion und die moralische Erwägung als der pba_261.012
epischen und überhaupt der poetischen Darstellung widerstrebend derselben pba_261.013
ferne zu halten, es sei denn, daß sie als dienende Glieder pba_261.014
in Nebenhandlungen zur Verwendung kommen.
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Einige Beispiele mögen den Satz bekräftigen. Von Gustav pba_261.016
Schwab gibt es eine poetische Erzählung „Johannes Kant“, der pba_261.017
lange ehe Jmmanuel Kant „den kategorischen Jmperativus fand, dem pba_261.018
kategorischen Jmperativus treu, zwang durch ihn wilde Seelen zu frommer pba_261.019
Scheu“. Dieser, ein Krakauer Doctor theologiae, ein Mann „von reinem pba_261.020
Gemüt und immer gleichem Sinn,“ zog im Alter zum Besuch seiner pba_261.021
schlesischen Heimat aus. Mitten im wilden Walde wird er von Räubern pba_261.022
angefallen und beraubt. Nachdem sie ihm sein Pferd, seine Barschaft pba_261.023
und alles Wertvolle, was er an sich hat, weggenommen, lassen sie ihn pba_261.024
laufen, da er versichert, nichts weiter zu besitzen. Doch, da er entronnen, pba_261.025
fällt es ihm auf die Seele, daß „in seiner Kutte vorderm pba_261.026
Saum“ noch „der güldene Sparpfennig sich versteckt“. Der Gewissensvorwurf pba_261.027
der begangenen Lüge treibt ihn zu den Räubern zurück, sein pba_261.028
Unrecht gut zu machen:
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„Das hab' ich böslich vor euch verleugnet, nehmt!“ pba_261.030
Den Räubern aber wird's wunderlich im Kopf, pba_261.031
Sie möchten lachen und spotten ob dem Tropf; pba_261.032
Und ihre Lippe findet doch keinen Laut, pba_261.033
Und ihr vertrocknetes, starres Auge taut. pba_261.034
Und in dem bleiernen Schlummer, den er schlief, pba_261.035
Regt sich in ihnen plötzlich der Jmp'rativ, pba_261.036
Der wunderbare, das heil'ge Gebot: „Du sollt — pba_261.037
Du sollt nicht stehlen!“ und vor der Hand voll Gold pba_261.038
Aufspringen sie, dann werfen sich all' aufs Knie, pba_261.039
Ein tiefes Schweigen waltet; denn Gott ist hie.
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Vgl. die nähere Ausführung über das Nibelungenlied, S. 292 ff.
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