pba_262.001 Sie geben ihm dann alles Geraubte zurück, er teilt ihnen den pba_262.002 Segen aus, "wünscht ihnen gründliche Reue" und reitet von dannen.
pba_262.003 Die Handlung ist in treuherzigem, etwas archaisierendem Tone pba_262.004 nicht ungeschickt erzählt; aber der Eindruck des Gedichtes ist mehr verstimmend pba_262.005 als erfreulich: der Grund ist, daß die Handlung eine eminent pba_262.006 moralische ist; moralisch ist die Reue des Kant und sein Entschluß pba_262.007 die Lüge gut zu machen, moralischer Natur ist die durch das Beispiel pba_262.008 bei den Räubern hervorgebrachte Wirkung; das eigentlich Moralischepba_262.009 aber, was hier also die innere Handlung ausmacht, läßt sich nicht pba_262.010 nachahmen, höchstens beschreiben, am wenigsten aber durch die pba_262.011 Nachahmung mitteilen, es ist schlechterdings an das eigene, wirklich pba_262.012 eintretende Handeln gebunden. So muß jeder Versuch es pba_262.013 zum Gegenstand der künstlerischen Mimesis, sei es poetische oder malerische, pba_262.014 zu machen, an dem Unvermögen, den Nachahmungszweck zu erreichen, pba_262.015 scheitern.
pba_262.016 Hieraus erklärt sich das Unbehagen, die Langeweile, der Widerspruch pba_262.017 des ästhetischen Gefühles, welches alle derartigen Produktionen pba_262.018 erregen, alle die Darstellungen von Akten der Tugend, des Edelmutes, pba_262.019 der Feindesliebe, der Selbstverleugnung, sofern sie eben als spezifisch pba_262.020 moralische Akte, als Triumphe des sittlich bestimmten Willens über pba_262.021 die entgegenstehende Neigung oder hindernde Schwäche, vorgeführt werden, pba_262.022 oder sofern auch nur das spezifisch Moralische an ihnen in den Vordergrund pba_262.023 gestellt wird. Der großen Menge der Geringeren nicht zu gedenken, pba_262.024 sei hier nur Herder erwähnt, welcher in seinen poetischen Erzählungen pba_262.025 über diesen Standpunkt nicht hinausgekommen ist. Freilich pba_262.026 nennt er sie "Legenden", und stellt sie damit, nach seiner Auffassung pba_262.027 der Legende, von vornherein unter einen fremden Gesichtspunkt. Er pba_262.028 hebt die Bedeutung und innere poetische Wahrheit der religiösen Ueberlieferungen pba_262.029 und kirchlichen Mythen sehr feinsinnig hervor, aber für ihre pba_262.030 poetische Verwendung in der Legende ist ihm nur die Absicht zu "bessern" pba_262.031 maßgebend: "Gäbe es in diesen Zeitaltern keine Muster einer pba_262.032 Tugend, die wirklich diesen Namen verdiente? keine Seelengröße, die, pba_262.033 über sich selbst gebietend, Gefahren nicht suchte, aber tapfer überwand pba_262.034 und das Leben selbst nicht achtete zur Erlangung des Kampfpreises?" pba_262.035 Und "wären alle jene Überlieferungen ein schwerer, dunkler Traum pba_262.036 langer Jahrhunderte, ein ungeheurer Wahnsinn der Zeiten gewesen, zeiget pba_262.037 ihn als solchen! Hebet die Erzählungen verführter, mißleiteter Seelen pba_262.038 sorgsam aus und merket, wie sie mißleitet wurden, wie sie sich selbst pba_262.039 verführten! Zeiget dies mit aller zarten Teilnahme, mit jedem hilfreichen pba_262.040 Erbarmen, herabsteigend in die Tiefen der menschlichen Natur,
pba_262.001 Sie geben ihm dann alles Geraubte zurück, er teilt ihnen den pba_262.002 Segen aus, „wünscht ihnen gründliche Reue“ und reitet von dannen.
pba_262.003 Die Handlung ist in treuherzigem, etwas archaisierendem Tone pba_262.004 nicht ungeschickt erzählt; aber der Eindruck des Gedichtes ist mehr verstimmend pba_262.005 als erfreulich: der Grund ist, daß die Handlung eine eminent pba_262.006 moralische ist; moralisch ist die Reue des Kant und sein Entschluß pba_262.007 die Lüge gut zu machen, moralischer Natur ist die durch das Beispiel pba_262.008 bei den Räubern hervorgebrachte Wirkung; das eigentlich Moralischepba_262.009 aber, was hier also die innere Handlung ausmacht, läßt sich nicht pba_262.010 nachahmen, höchstens beschreiben, am wenigsten aber durch die pba_262.011 Nachahmung mitteilen, es ist schlechterdings an das eigene, wirklich pba_262.012 eintretende Handeln gebunden. So muß jeder Versuch es pba_262.013 zum Gegenstand der künstlerischen Mimesis, sei es poetische oder malerische, pba_262.014 zu machen, an dem Unvermögen, den Nachahmungszweck zu erreichen, pba_262.015 scheitern.
pba_262.016 Hieraus erklärt sich das Unbehagen, die Langeweile, der Widerspruch pba_262.017 des ästhetischen Gefühles, welches alle derartigen Produktionen pba_262.018 erregen, alle die Darstellungen von Akten der Tugend, des Edelmutes, pba_262.019 der Feindesliebe, der Selbstverleugnung, sofern sie eben als spezifisch pba_262.020 moralische Akte, als Triumphe des sittlich bestimmten Willens über pba_262.021 die entgegenstehende Neigung oder hindernde Schwäche, vorgeführt werden, pba_262.022 oder sofern auch nur das spezifisch Moralische an ihnen in den Vordergrund pba_262.023 gestellt wird. Der großen Menge der Geringeren nicht zu gedenken, pba_262.024 sei hier nur Herder erwähnt, welcher in seinen poetischen Erzählungen pba_262.025 über diesen Standpunkt nicht hinausgekommen ist. Freilich pba_262.026 nennt er sie „Legenden“, und stellt sie damit, nach seiner Auffassung pba_262.027 der Legende, von vornherein unter einen fremden Gesichtspunkt. Er pba_262.028 hebt die Bedeutung und innere poetische Wahrheit der religiösen Ueberlieferungen pba_262.029 und kirchlichen Mythen sehr feinsinnig hervor, aber für ihre pba_262.030 poetische Verwendung in der Legende ist ihm nur die Absicht zu „bessern“ pba_262.031 maßgebend: „Gäbe es in diesen Zeitaltern keine Muster einer pba_262.032 Tugend, die wirklich diesen Namen verdiente? keine Seelengröße, die, pba_262.033 über sich selbst gebietend, Gefahren nicht suchte, aber tapfer überwand pba_262.034 und das Leben selbst nicht achtete zur Erlangung des Kampfpreises?“ pba_262.035 Und „wären alle jene Überlieferungen ein schwerer, dunkler Traum pba_262.036 langer Jahrhunderte, ein ungeheurer Wahnsinn der Zeiten gewesen, zeiget pba_262.037 ihn als solchen! Hebet die Erzählungen verführter, mißleiteter Seelen pba_262.038 sorgsam aus und merket, wie sie mißleitet wurden, wie sie sich selbst pba_262.039 verführten! Zeiget dies mit aller zarten Teilnahme, mit jedem hilfreichen pba_262.040 Erbarmen, herabsteigend in die Tiefen der menschlichen Natur,
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Sie geben ihm dann alles Geraubte zurück, er teilt ihnen den pba_262.002
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Die Handlung ist in treuherzigem, etwas archaisierendem Tone pba_262.004
nicht ungeschickt erzählt; aber der Eindruck des Gedichtes ist mehr verstimmend pba_262.005
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bei den Räubern hervorgebrachte Wirkung; das eigentlich Moralische pba_262.009
aber, was hier also die innere Handlung ausmacht, läßt sich nicht pba_262.010
nachahmen, höchstens beschreiben, am wenigsten aber durch die pba_262.011
Nachahmung mitteilen, es ist schlechterdings an das eigene, wirklich pba_262.012
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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