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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Anderes weiter im Gefolge hat; Mitte dasjenige, was sowohl selbst pba_279.002
notwendig auf etwas Anderes folgt als auch etwas Neues im Gefolge pba_279.003
hat. Nach diesen Regeln ist also bei einer richtig komponierten Fabel pba_279.004
Anfang und Ende keineswegs in das willkürliche Belieben gestellt, sondern pba_279.005
mit Notwendigkeit gegeben.1

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Der Begriff der Vollständigkeit verlangt, daß sowohl Anfang pba_279.007
als Mitte und Ende nach allen Richtungen alles der einen Handlung pba_279.008
notwendig Zugehörige enthalten; der Begriff der Einheit erfordert, pba_279.009
daß nichts in der Darstellung der Handlung vorkomme, dessen Vorhandensein pba_279.010
oder Nichtvorhandensein für den Verlauf derselben gleichgültig pba_279.011
sei, was also fortbleiben würde, ohne die Handlung zu alterieren: pba_279.012
nur dasjenige bildet einen Bestandteil der einheitlichen Handlung, durch pba_279.013
dessen Fortlassung oder auch nur Umstellung das Ganze eine Veränderung pba_279.014
und Erschütterung erleidet.2

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Die Forderungen der Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit stehen pba_279.016
für jede epische Dichtung in der ersten Linie, mag dieselbe nun auf den pba_279.017
denkbar größten oder den geringsten Umfang angelegt sein. Dennoch pba_279.018
ist es eine der seltensten Erscheinungen, sie nach ihrer ganzen Strenge, pba_279.019
von der doch die künstlerische Wirkung des Gedichtes abhängt, erfüllt pba_279.020
zu sehen. Jn nichts unterscheidet sich das Kunstepos so sehr von dem pba_279.021
nationalen, dem sogenannten Volksepos, als in diesem Punkte; pba_279.022
beide sind ja der Gattung nach keineswegs verschieden, sie stehen unter pba_279.023
ganz denselben Gesetzen, sondern nur hinsichtlich ihres Ursprunges, und pba_279.024
selbst dieser Unterschied ist, sofern die Kunstdichtung gleichfalls aus dem pba_279.025
Quell der nationalen Sage schöpft, doch ein hauptsächlich quantitativer: pba_279.026
für die Dichter der großen nationalen Epen sprudelte dieser Quell reiner, pba_279.027
voller und lebendiger, sie durften ihn nicht aufsuchen oder den verschütteten pba_279.028
erst mühsam aufgraben; dagegen sind in den sogenannten Kunstepen pba_279.029
die fremden oder doch subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Zu-

1 pba_279.030
Das ist die fast wörtliche, dem Sinne jedoch genau entsprechende Übersetzung pba_279.031
von Aristot. Poet. Kap. 7: olon d'esti to ekhon arkhen kai meson kai teleuten. pba_279.032
arke d'estin o auto men me ex anagkes met' allo esti, met' ekeino d'eteron pba_279.033
pephuken einai \e ginesthai; teleute de tounantion \o auto met' allo pephuken einai, pba_279.034
\e ex anagkes \e os epi to polu, meta de touto allo ouden; meson de \o kai auto pba_279.035
met' allo kai met' ekeino eteron. dei ara tous sunestotas eu muthous meth' opothen pba_279.036
etukhen arkhesthai meth' o`~pou etukhe teleutan, alla kekhresthai tais eiremenais ideais;
2 pba_279.037
Vgl. a. a. O. Kap. 8 am Schlusse: khre oun kathaper kai en tais allais mimetikais pba_279.038
e mia mimesis enos estin, outo kai ton muthon, epei praxeos mimesis pba_279.039
esti, mias te einai kai tautes \oles, kai ta mere sunestanai ton pragmaton pba_279.040
outos oste metatithemenou tinos merous e aphairoumenou diapheresthai kai kineisthai pba_279.041
to olon; \o gar proson \e me proson meden poiei epidelon, ouden morion tou olou estin.

pba_279.001
Anderes weiter im Gefolge hat; Mitte dasjenige, was sowohl selbst pba_279.002
notwendig auf etwas Anderes folgt als auch etwas Neues im Gefolge pba_279.003
hat. Nach diesen Regeln ist also bei einer richtig komponierten Fabel pba_279.004
Anfang und Ende keineswegs in das willkürliche Belieben gestellt, sondern pba_279.005
mit Notwendigkeit gegeben.1

pba_279.006
Der Begriff der Vollständigkeit verlangt, daß sowohl Anfang pba_279.007
als Mitte und Ende nach allen Richtungen alles der einen Handlung pba_279.008
notwendig Zugehörige enthalten; der Begriff der Einheit erfordert, pba_279.009
daß nichts in der Darstellung der Handlung vorkomme, dessen Vorhandensein pba_279.010
oder Nichtvorhandensein für den Verlauf derselben gleichgültig pba_279.011
sei, was also fortbleiben würde, ohne die Handlung zu alterieren: pba_279.012
nur dasjenige bildet einen Bestandteil der einheitlichen Handlung, durch pba_279.013
dessen Fortlassung oder auch nur Umstellung das Ganze eine Veränderung pba_279.014
und Erschütterung erleidet.2

pba_279.015
Die Forderungen der Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit stehen pba_279.016
für jede epische Dichtung in der ersten Linie, mag dieselbe nun auf den pba_279.017
denkbar größten oder den geringsten Umfang angelegt sein. Dennoch pba_279.018
ist es eine der seltensten Erscheinungen, sie nach ihrer ganzen Strenge, pba_279.019
von der doch die künstlerische Wirkung des Gedichtes abhängt, erfüllt pba_279.020
zu sehen. Jn nichts unterscheidet sich das Kunstepos so sehr von dem pba_279.021
nationalen, dem sogenannten Volksepos, als in diesem Punkte; pba_279.022
beide sind ja der Gattung nach keineswegs verschieden, sie stehen unter pba_279.023
ganz denselben Gesetzen, sondern nur hinsichtlich ihres Ursprunges, und pba_279.024
selbst dieser Unterschied ist, sofern die Kunstdichtung gleichfalls aus dem pba_279.025
Quell der nationalen Sage schöpft, doch ein hauptsächlich quantitativer: pba_279.026
für die Dichter der großen nationalen Epen sprudelte dieser Quell reiner, pba_279.027
voller und lebendiger, sie durften ihn nicht aufsuchen oder den verschütteten pba_279.028
erst mühsam aufgraben; dagegen sind in den sogenannten Kunstepen pba_279.029
die fremden oder doch subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Zu-

1 pba_279.030
Das ist die fast wörtliche, dem Sinne jedoch genau entsprechende Übersetzung pba_279.031
von Aristot. Poet. Kap. 7: ὅλον δ'ἐστὶ τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ μέσον καὶ τελευτήν. pba_279.032
ἀρκὴ δ'ἐστὶν ὅ αὐτὸ μὲν μὴ ἐξ ἀνάγκης μετ' ἄλλο ἐστί, μετ' ἐκεῖνο δ'ἕτερον pba_279.033
πέφυκεν εἶναι \̓η γίνεσθαι· τελευτὴ δἐ τοὐναντίον \̔ο αὐτὸ μετ' ἄλλο πέφυκεν εἶναι, pba_279.034
\̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, μετὰ δἐ τοῦτο ἄλλο οὐδέν· μέσον δὲ \̔ο καὶ αὐτὸ pba_279.035
μετ' ἄλλο καὶ μετ' ἐκεῖνο ἕτερον. δεῖ ἄρα τοὺς συνεστῶτας εὖ μύθους μἠθ' ὁπόθεν pba_279.036
ἔτυχεν ἅρχεσθαι μηθ' ο῟που ἔτυχε τελευτᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι ταῖς εἰρημέναις ἰδέαις·
2 pba_279.037
Vgl. a. a. O. Kap. 8 am Schlusse: χρή οὖν καθάπερ καὶ ἐν ταῖς ἅλλαις μιμητικαῖς pba_279.038
ἡ μία μίμησις ἑνός ἐστιν, οὕτω καὶ τὸν μῦθον, ἐπεὶ πράξεως μίμησίς pba_279.039
ἐστι, μιᾶς τε εἶναι καὶ ταύτης \̔ολης, καὶ τὰ μέρη συνεστάναι τῶν πραγμάτων pba_279.040
οὕτως ὥστε μετατιθεμένου τινὸς μέρους ἤ ἀφαιρουμένου διαφέρεσθαι καὶ κινεῖσθαι pba_279.041
τὸ ὅλον· \̔ο γὰρ προσὸν \̓η μὴ προσόν μηδὲν ποιεῖ ἐπίδηλον, οὐδὲν μόριον τοῦ ὅλου ἐστίν.
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[279/0297] pba_279.001 Anderes weiter im Gefolge hat; Mitte dasjenige, was sowohl selbst pba_279.002 notwendig auf etwas Anderes folgt als auch etwas Neues im Gefolge pba_279.003 hat. Nach diesen Regeln ist also bei einer richtig komponierten Fabel pba_279.004 Anfang und Ende keineswegs in das willkürliche Belieben gestellt, sondern pba_279.005 mit Notwendigkeit gegeben. 1 pba_279.006 Der Begriff der Vollständigkeit verlangt, daß sowohl Anfang pba_279.007 als Mitte und Ende nach allen Richtungen alles der einen Handlung pba_279.008 notwendig Zugehörige enthalten; der Begriff der Einheit erfordert, pba_279.009 daß nichts in der Darstellung der Handlung vorkomme, dessen Vorhandensein pba_279.010 oder Nichtvorhandensein für den Verlauf derselben gleichgültig pba_279.011 sei, was also fortbleiben würde, ohne die Handlung zu alterieren: pba_279.012 nur dasjenige bildet einen Bestandteil der einheitlichen Handlung, durch pba_279.013 dessen Fortlassung oder auch nur Umstellung das Ganze eine Veränderung pba_279.014 und Erschütterung erleidet. 2 pba_279.015 Die Forderungen der Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit stehen pba_279.016 für jede epische Dichtung in der ersten Linie, mag dieselbe nun auf den pba_279.017 denkbar größten oder den geringsten Umfang angelegt sein. Dennoch pba_279.018 ist es eine der seltensten Erscheinungen, sie nach ihrer ganzen Strenge, pba_279.019 von der doch die künstlerische Wirkung des Gedichtes abhängt, erfüllt pba_279.020 zu sehen. Jn nichts unterscheidet sich das Kunstepos so sehr von dem pba_279.021 nationalen, dem sogenannten Volksepos, als in diesem Punkte; pba_279.022 beide sind ja der Gattung nach keineswegs verschieden, sie stehen unter pba_279.023 ganz denselben Gesetzen, sondern nur hinsichtlich ihres Ursprunges, und pba_279.024 selbst dieser Unterschied ist, sofern die Kunstdichtung gleichfalls aus dem pba_279.025 Quell der nationalen Sage schöpft, doch ein hauptsächlich quantitativer: pba_279.026 für die Dichter der großen nationalen Epen sprudelte dieser Quell reiner, pba_279.027 voller und lebendiger, sie durften ihn nicht aufsuchen oder den verschütteten pba_279.028 erst mühsam aufgraben; dagegen sind in den sogenannten Kunstepen pba_279.029 die fremden oder doch subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Zu- 1 pba_279.030 Das ist die fast wörtliche, dem Sinne jedoch genau entsprechende Übersetzung pba_279.031 von Aristot. Poet. Kap. 7: ὅλον δ'ἐστὶ τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ μέσον καὶ τελευτήν. pba_279.032 ἀρκὴ δ'ἐστὶν ὅ αὐτὸ μὲν μὴ ἐξ ἀνάγκης μετ' ἄλλο ἐστί, μετ' ἐκεῖνο δ'ἕτερον pba_279.033 πέφυκεν εἶναι \̓η γίνεσθαι· τελευτὴ δἐ τοὐναντίον \̔ο αὐτὸ μετ' ἄλλο πέφυκεν εἶναι, pba_279.034 \̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, μετὰ δἐ τοῦτο ἄλλο οὐδέν· μέσον δὲ \̔ο καὶ αὐτὸ pba_279.035 μετ' ἄλλο καὶ μετ' ἐκεῖνο ἕτερον. δεῖ ἄρα τοὺς συνεστῶτας εὖ μύθους μἠθ' ὁπόθεν pba_279.036 ἔτυχεν ἅρχεσθαι μηθ' ο῟που ἔτυχε τελευτᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι ταῖς εἰρημέναις ἰδέαις· 2 pba_279.037 Vgl. a. a. O. Kap. 8 am Schlusse: χρή οὖν καθάπερ καὶ ἐν ταῖς ἅλλαις μιμητικαῖς pba_279.038 ἡ μία μίμησις ἑνός ἐστιν, οὕτω καὶ τὸν μῦθον, ἐπεὶ πράξεως μίμησίς pba_279.039 ἐστι, μιᾶς τε εἶναι καὶ ταύτης \̔ολης, καὶ τὰ μέρη συνεστάναι τῶν πραγμάτων pba_279.040 οὕτως ὥστε μετατιθεμένου τινὸς μέρους ἤ ἀφαιρουμένου διαφέρεσθαι καὶ κινεῖσθαι pba_279.041 τὸ ὅλον· \̔ο γὰρ προσὸν \̓η μὴ προσόν μηδὲν ποιεῖ ἐπίδηλον, οὐδὲν μόριον τοῦ ὅλου ἐστίν.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/297>, abgerufen am 22.11.2024.