pba_280.001 thaten bei Weitem häufiger und beträchtlicher. Sowie aber das Grundgesetz pba_280.002 der dichterischen Nachahmung von Handlungen, die Einheit des pba_280.003 Gegenstandes, angetastet wird, so leidet darunter naturgemäß auch der pba_280.004 Nachahmungszweck: die reine Anschauung und Empfindung des Schicksalswaltens pba_280.005 kann da nicht hervorgebracht werden, wo der unabänderlich pba_280.006 feste und streng notwendige innere und äußere Zusammenhang der dargestellten pba_280.007 Dinge nicht vorhanden ist. Je stärker daher der Fehler gegen pba_280.008 das Gesetz der Einheit ist, je mehr dieselbe bloß in die Person statt in pba_280.009 die Handlung verlegt ist, desto mehr muß der Nachahmungszweck ein pba_280.010 äußerlicher werden, desto mehr sich das Jnteresse an den bloßen historischen pba_280.011 Verlauf oder das thatsächliche Ergebnis des Erzählungs-"Stoffes" heften, pba_280.012 endlich, wo die Einheit so weit aufgehoben ist, daß auch dieses Jnteresse pba_280.013 sich abschwächt, wird nur der Reiz des bunten Wechsels der dargestellten pba_280.014 Veränderungen, der fesselnden Gestalt des augenblicklich den Sinn beschäftigenden pba_280.015 Geschehnisses übrig bleiben.
pba_280.016
XVII.
pba_280.017 Alle Forderungen, die an die Komposition des Epos zu stellen sind, pba_280.018 werden am vollständigsten durch die homerischen Epen erfüllt. Aber pba_280.019 schon Virgils "Aeneis" zeigt den Beginn des Sinkens der epischen pba_280.020 Kunst. So kunstvoll vielfach die Erzählung ist, so sorgfältig die Charakterdarstellung, pba_280.021 der Ausdruck der Leidenschaften und Reflexionen, so vermögen pba_280.022 alle diese Vorgänge den Mangel der Einheit nicht aufzuwiegen: pba_280.023 die Verbindung zwischen dem ersten Teile, Aeneas Aufenthalt zu Carthago pba_280.024 und dem Selbstmord der verlasseneu Dido, und dem zweiten, dem Kampf pba_280.025 um Lavinia und Latium, ist eine ganz äußerlich erkünstelte; weder hat pba_280.026 der tragische Abschluß des ersten Teiles im vierten Buche die Kraft pba_280.027 eines Verhängnisses für den Helden, welches für den weiteren Verlauf pba_280.028 der Handlung entscheidend ist, etwa in der Art, wie Siegfrieds Verhältnis pba_280.029 zu Brunhild die gesamte Entwickelung der Handlung in beiden pba_280.030 Teilen des Nibelungenliedes bestimmt, noch werden die einzelnen Teile pba_280.031 des Ganzen durch das Ethos des Helden zusammengehalten, wie in der pba_280.032 Odyssee, wo die ganze Reihe der Abenteuer entweder geradezu durch des pba_280.033 Helden charakteristische Sinnesart hervorgerufen oder in ihrem Ausgang, pba_280.034 ihrer Folge und Verkettung wesentlich durch diese das Ganze beherrschende pba_280.035 Kraft seines Ethos gestaltet wird. Wenn bei Virgils Helden ein solches pba_280.036 Ethos vorhanden ist, so müßte es das negative der Abwesenheit aller
pba_280.001 thaten bei Weitem häufiger und beträchtlicher. Sowie aber das Grundgesetz pba_280.002 der dichterischen Nachahmung von Handlungen, die Einheit des pba_280.003 Gegenstandes, angetastet wird, so leidet darunter naturgemäß auch der pba_280.004 Nachahmungszweck: die reine Anschauung und Empfindung des Schicksalswaltens pba_280.005 kann da nicht hervorgebracht werden, wo der unabänderlich pba_280.006 feste und streng notwendige innere und äußere Zusammenhang der dargestellten pba_280.007 Dinge nicht vorhanden ist. Je stärker daher der Fehler gegen pba_280.008 das Gesetz der Einheit ist, je mehr dieselbe bloß in die Person statt in pba_280.009 die Handlung verlegt ist, desto mehr muß der Nachahmungszweck ein pba_280.010 äußerlicher werden, desto mehr sich das Jnteresse an den bloßen historischen pba_280.011 Verlauf oder das thatsächliche Ergebnis des Erzählungs-„Stoffes“ heften, pba_280.012 endlich, wo die Einheit so weit aufgehoben ist, daß auch dieses Jnteresse pba_280.013 sich abschwächt, wird nur der Reiz des bunten Wechsels der dargestellten pba_280.014 Veränderungen, der fesselnden Gestalt des augenblicklich den Sinn beschäftigenden pba_280.015 Geschehnisses übrig bleiben.
pba_280.016
XVII.
pba_280.017 Alle Forderungen, die an die Komposition des Epos zu stellen sind, pba_280.018 werden am vollständigsten durch die homerischen Epen erfüllt. Aber pba_280.019 schon Virgils „Aeneis“ zeigt den Beginn des Sinkens der epischen pba_280.020 Kunst. So kunstvoll vielfach die Erzählung ist, so sorgfältig die Charakterdarstellung, pba_280.021 der Ausdruck der Leidenschaften und Reflexionen, so vermögen pba_280.022 alle diese Vorgänge den Mangel der Einheit nicht aufzuwiegen: pba_280.023 die Verbindung zwischen dem ersten Teile, Aeneas Aufenthalt zu Carthago pba_280.024 und dem Selbstmord der verlasseneu Dido, und dem zweiten, dem Kampf pba_280.025 um Lavinia und Latium, ist eine ganz äußerlich erkünstelte; weder hat pba_280.026 der tragische Abschluß des ersten Teiles im vierten Buche die Kraft pba_280.027 eines Verhängnisses für den Helden, welches für den weiteren Verlauf pba_280.028 der Handlung entscheidend ist, etwa in der Art, wie Siegfrieds Verhältnis pba_280.029 zu Brunhild die gesamte Entwickelung der Handlung in beiden pba_280.030 Teilen des Nibelungenliedes bestimmt, noch werden die einzelnen Teile pba_280.031 des Ganzen durch das Ethos des Helden zusammengehalten, wie in der pba_280.032 Odyssee, wo die ganze Reihe der Abenteuer entweder geradezu durch des pba_280.033 Helden charakteristische Sinnesart hervorgerufen oder in ihrem Ausgang, pba_280.034 ihrer Folge und Verkettung wesentlich durch diese das Ganze beherrschende pba_280.035 Kraft seines Ethos gestaltet wird. Wenn bei Virgils Helden ein solches pba_280.036 Ethos vorhanden ist, so müßte es das negative der Abwesenheit aller
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/298>, abgerufen am 22.11.2024.
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