Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_333.001
Bei der Kürze der eigentlichen Handlung, welche, wie bemerkt, pba_333.002
durch die äußeren Umstände gebieterisch für die dramatische Form der pba_333.003
Nachahmung gefordert wird, ist nun aber die geschilderte Wirkung nicht pba_333.004
anders denkbar, als wenn der dargestellte Schicksalsverlauf ein typischer pba_333.005
ist, im einzelnen Falle das im Ganzen vorhandene, Alles lenkende Gesetz pba_333.006
der Anschauung und Empfindung wahrnehmbar macht. Die nach dieser pba_333.007
Richtung hin prägnanteste, inhaltreichste, also schicksalsvollste Handlung pba_333.008
ist demgemäß die dramatisch beste.

pba_333.009
Um einen sicheren Weg zur Feststellung der für das Drama gültigen pba_333.010
Gesetze über die Einrichtung der Handlung zu gewinnen, wird es pba_333.011
also erforderlich sein, jenen Begriff der "schicksalsvollsten" Handlung pba_333.012
möglichst genau zu präcisieren.

pba_333.013
Dabei zeigt sich sofort, wie verkehrt hier wie überall in der Kunst

pba_333.014
erst, und zwar sofern sie eine vollendete ist, die Freude naturgemäß und notwendig mit pba_333.015
sich bringt. Freude findet bei jeder Art einer so beschaffenen Bethätigung statt; diejenige pba_333.016
Art der Energie, für welche das Kunstwerk den Anlaß schasft, ist pba_333.017
die ästhetische, die Bethätigung der durch die Wahrnehmung erweckten pba_333.018
Empfindung.
(Aristoteles drückt das kurzgefaßt so aus: oude gar alles energeias pba_333.019
oudemias tekhne estin, alla tes dunameos.) Das Kunstwerk muß also diejenige pba_333.020
Beschaffenheit haben, welche der Energie der Ästhesis ein in vorzüglicher Weise für pba_333.021
ihre Bethätigung geeignetes Objekt in solcher Form vorführt, daß diese Bethätigung pba_333.022
auch in der vollendetsten Art erfolgen kann. Ob dieselbe aber erfolgt, ist eine Frage, pba_333.023
durch welche die Gesetzgebung des Kunstwerks durchaus nicht berührt wird: sein ergon, pba_333.024
seine Aufgabe, ist lediglich, die Möglichkeit einer solchen zu bereiten: ten dunamin. pba_333.025
Seine Wirkungen sind völlig objektiv, die Freude ist eine subjektive pba_333.026
Erscheinung, deren Entstehung davon abhängt, ob der Empfangende (peisomenos) das pba_333.027
Seinige dazu thut, jene Kraft, welche die Möglichkeit dazu gewährt (eben die im Kunstwerk pba_333.028
vorhandene dunamis), in sich zur vollen Geltung gelangen zu lassen. Jst dieses pba_333.029
aber richtig, so kann weder die Definition der tragischen Kunst noch die pba_333.030
irgend einer anderen
auf den Begriff des durch dieselbe hervorgebrachten "Vergnügens" pba_333.031
basiert werden, sondern lediglich auf die für jede Gattung und Art der pba_333.032
Kunst gesondert zu bestimmende Wirkungskraft, welche dem einzelnen pba_333.033
Kunstwerke gegenüber der Wahrnehmungs- und Empfindungsenergie pba_333.034
zu erteilen ist.
War aber der Begriff der Hedone, des "Vergnügens", aus pba_333.035
der Definition der Kunst auszuschließen, so konnte auch der Begriff der Schönheit pba_333.036
in ihr keine Stelle finden: denn nach Aristoteles ist "das Schöne das Gute, sofern pba_333.037
es eben als Gutes Freude erweckt
" (cf. Rhet. I. c. 9: kalon men oun pba_333.038
estin ... \o \an agathon \on edu e, oti agathon). Auf das Glücklichste ist in dieser pba_333.039
Definition des Schönen die absolute Natur desselben bezeichnet, während zugleich durch pba_333.040
dieselbe gegeben ist, daß in den einzelnen wirklichen Fällen die Frage, ob es nun auch pba_333.041
als Schönes erscheine, durch die Beschaffenheit des empfangenden Subjektes, also einen pba_333.042
nach Zeit, Nationen, Jndividuen variablen Faktor, entschieden wird. (Vgl. über diesen pba_333.043
Gegenstand das Nähere in der Schrift des Verfassers: "Aristoteles, Lessing und pba_333.044
Goethe.
" Leipzig 1877. S. 66 ff. u. 71 ff.)

pba_333.001
Bei der Kürze der eigentlichen Handlung, welche, wie bemerkt, pba_333.002
durch die äußeren Umstände gebieterisch für die dramatische Form der pba_333.003
Nachahmung gefordert wird, ist nun aber die geschilderte Wirkung nicht pba_333.004
anders denkbar, als wenn der dargestellte Schicksalsverlauf ein typischer pba_333.005
ist, im einzelnen Falle das im Ganzen vorhandene, Alles lenkende Gesetz pba_333.006
der Anschauung und Empfindung wahrnehmbar macht. Die nach dieser pba_333.007
Richtung hin prägnanteste, inhaltreichste, also schicksalsvollste Handlung pba_333.008
ist demgemäß die dramatisch beste.

pba_333.009
Um einen sicheren Weg zur Feststellung der für das Drama gültigen pba_333.010
Gesetze über die Einrichtung der Handlung zu gewinnen, wird es pba_333.011
also erforderlich sein, jenen Begriff der „schicksalsvollsten“ Handlung pba_333.012
möglichst genau zu präcisieren.

pba_333.013
Dabei zeigt sich sofort, wie verkehrt hier wie überall in der Kunst

pba_333.014
erst, und zwar sofern sie eine vollendete ist, die Freude naturgemäß und notwendig mit pba_333.015
sich bringt. Freude findet bei jeder Art einer so beschaffenen Bethätigung statt; diejenige pba_333.016
Art der Energie, für welche das Kunstwerk den Anlaß schasft, ist pba_333.017
die ästhetische, die Bethätigung der durch die Wahrnehmung erweckten pba_333.018
Empfindung.
(Aristoteles drückt das kurzgefaßt so aus: οὐδὲ γὰρ ἄλλης ἐνεργείας pba_333.019
οὐδεμιᾶς τέχνη ἐστὶν, ἀλλὰ τῆς δυνάμεως.) Das Kunstwerk muß also diejenige pba_333.020
Beschaffenheit haben, welche der Energie der Ästhesis ein in vorzüglicher Weise für pba_333.021
ihre Bethätigung geeignetes Objekt in solcher Form vorführt, daß diese Bethätigung pba_333.022
auch in der vollendetsten Art erfolgen kann. Ob dieselbe aber erfolgt, ist eine Frage, pba_333.023
durch welche die Gesetzgebung des Kunstwerks durchaus nicht berührt wird: sein ἔργον, pba_333.024
seine Aufgabe, ist lediglich, die Möglichkeit einer solchen zu bereiten: τὴν δύναμιν. pba_333.025
Seine Wirkungen sind völlig objektiv, die Freude ist eine subjektive pba_333.026
Erscheinung, deren Entstehung davon abhängt, ob der Empfangende (πεισόμενος) das pba_333.027
Seinige dazu thut, jene Kraft, welche die Möglichkeit dazu gewährt (eben die im Kunstwerk pba_333.028
vorhandene δύναμις), in sich zur vollen Geltung gelangen zu lassen. Jst dieses pba_333.029
aber richtig, so kann weder die Definition der tragischen Kunst noch die pba_333.030
irgend einer anderen
auf den Begriff des durch dieselbe hervorgebrachten „Vergnügenspba_333.031
basiert werden, sondern lediglich auf die für jede Gattung und Art der pba_333.032
Kunst gesondert zu bestimmende Wirkungskraft, welche dem einzelnen pba_333.033
Kunstwerke gegenüber der Wahrnehmungs- und Empfindungsenergie pba_333.034
zu erteilen ist.
War aber der Begriff der Hedone, des „Vergnügens“, aus pba_333.035
der Definition der Kunst auszuschließen, so konnte auch der Begriff der Schönheit pba_333.036
in ihr keine Stelle finden: denn nach Aristoteles ist „das Schöne das Gute, sofern pba_333.037
es eben als Gutes Freude erweckt
“ (cf. Rhet. I. c. 9: καλὸν μὲν οὖν pba_333.038
ἐστὶν ... \̔ο \̓αν ἀγαθὸν \̓ον ἡδὺ ᾖ, ὅτι ἀγαθόν). Auf das Glücklichste ist in dieser pba_333.039
Definition des Schönen die absolute Natur desselben bezeichnet, während zugleich durch pba_333.040
dieselbe gegeben ist, daß in den einzelnen wirklichen Fällen die Frage, ob es nun auch pba_333.041
als Schönes erscheine, durch die Beschaffenheit des empfangenden Subjektes, also einen pba_333.042
nach Zeit, Nationen, Jndividuen variablen Faktor, entschieden wird. (Vgl. über diesen pba_333.043
Gegenstand das Nähere in der Schrift des Verfassers: „Aristoteles, Lessing und pba_333.044
Goethe.
“ Leipzig 1877. S. 66 ff. u. 71 ff.)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0351" n="333"/>
        <p><lb n="pba_333.001"/>
Bei der <hi rendition="#g">Kürze</hi> der eigentlichen Handlung, welche, wie bemerkt, <lb n="pba_333.002"/>
durch die äußeren Umstände gebieterisch für die dramatische Form der <lb n="pba_333.003"/>
Nachahmung gefordert wird, ist nun aber die geschilderte Wirkung nicht <lb n="pba_333.004"/>
anders denkbar, als wenn der dargestellte Schicksalsverlauf ein <hi rendition="#g">typischer</hi> <lb n="pba_333.005"/>
ist, im einzelnen Falle das im Ganzen vorhandene, Alles lenkende Gesetz <lb n="pba_333.006"/>
der Anschauung und Empfindung wahrnehmbar macht. Die nach dieser <lb n="pba_333.007"/>
Richtung hin prägnanteste, inhaltreichste, also <hi rendition="#g">schicksalsvollste</hi> Handlung <lb n="pba_333.008"/>
ist demgemäß die <hi rendition="#g">dramatisch beste.</hi></p>
        <p><lb n="pba_333.009"/>
Um einen sicheren Weg zur Feststellung der für das Drama gültigen <lb n="pba_333.010"/>
Gesetze über die Einrichtung der Handlung zu gewinnen, wird es <lb n="pba_333.011"/>
also erforderlich sein, jenen Begriff der &#x201E;<hi rendition="#g">schicksalsvollsten</hi>&#x201C; Handlung <lb n="pba_333.012"/>
möglichst genau zu präcisieren.</p>
        <p><lb n="pba_333.013"/>
Dabei zeigt sich sofort, wie verkehrt hier wie überall in der Kunst  <note xml:id="pba_332_1b" prev="#pba_332_1a" place="foot" n="1"><lb n="pba_333.014"/>
erst, und zwar sofern sie eine vollendete ist, die Freude naturgemäß und notwendig mit <lb n="pba_333.015"/>
sich bringt. Freude findet bei jeder Art einer so beschaffenen Bethätigung statt; <hi rendition="#g">diejenige <lb n="pba_333.016"/>
Art der Energie, für welche das Kunstwerk den Anlaß schasft, ist <lb n="pba_333.017"/>
die ästhetische, die Bethätigung der durch die Wahrnehmung erweckten <lb n="pba_333.018"/>
Empfindung.</hi> (Aristoteles drückt das kurzgefaßt so aus: <foreign xml:lang="grc">&#x03BF;&#x1F50;&#x03B4;&#x1F72; &#x03B3;&#x1F70;&#x03C1; &#x1F04;&#x03BB;&#x03BB;&#x03B7;&#x03C2; &#x1F10;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C1;&#x03B3;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1;&#x03C2;</foreign> <lb n="pba_333.019"/>
<foreign xml:lang="grc">&#x03BF;&#x1F50;&#x03B4;&#x03B5;&#x03BC;&#x03B9;&#x1FB6;&#x03C2; &#x03C4;&#x03AD;&#x03C7;&#x03BD;&#x03B7; &#x1F10;&#x03C3;&#x03C4;&#x1F76;&#x03BD;, <hi rendition="#g">&#x1F00;&#x03BB;&#x03BB;&#x1F70; &#x03C4;&#x1FC6;&#x03C2; &#x03B4;&#x03C5;&#x03BD;&#x03AC;&#x03BC;&#x03B5;&#x03C9;&#x03C2;</hi></foreign>.) Das Kunstwerk muß also diejenige <lb n="pba_333.020"/>
Beschaffenheit haben, welche der Energie der <hi rendition="#g">Ästhesis</hi> ein in vorzüglicher Weise für <lb n="pba_333.021"/>
ihre Bethätigung geeignetes Objekt in solcher Form vorführt, daß diese Bethätigung <lb n="pba_333.022"/>
auch in der vollendetsten Art erfolgen kann. <hi rendition="#g">Ob</hi> dieselbe aber erfolgt, ist eine Frage, <lb n="pba_333.023"/>
durch welche die Gesetzgebung des Kunstwerks durchaus nicht berührt wird: sein <foreign xml:lang="grc">&#x1F14;&#x03C1;&#x03B3;&#x03BF;&#x03BD;</foreign>, <lb n="pba_333.024"/>
seine Aufgabe, ist lediglich, die <hi rendition="#g">Möglichkeit einer solchen zu bereiten:</hi> <foreign xml:lang="grc">&#x03C4;&#x1F74;&#x03BD; &#x03B4;&#x03CD;&#x03BD;&#x03B1;&#x03BC;&#x03B9;&#x03BD;</foreign>. <lb n="pba_333.025"/> <hi rendition="#g">Seine Wirkungen sind völlig objektiv,</hi> die Freude ist eine <hi rendition="#g">subjektive</hi> <lb n="pba_333.026"/>
Erscheinung, deren Entstehung davon abhängt, ob der Empfangende (<foreign xml:lang="grc">&#x03C0;&#x03B5;&#x03B9;&#x03C3;&#x03CC;&#x03BC;&#x03B5;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C2;</foreign>) das <lb n="pba_333.027"/>
Seinige dazu thut, jene Kraft, welche die Möglichkeit dazu gewährt (eben die im Kunstwerk <lb n="pba_333.028"/>
vorhandene <foreign xml:lang="grc">&#x03B4;&#x03CD;&#x03BD;&#x03B1;&#x03BC;&#x03B9;&#x03C2;</foreign>), in sich zur vollen Geltung gelangen zu lassen. Jst dieses <lb n="pba_333.029"/>
aber richtig, so kann <hi rendition="#g">weder die Definition der tragischen Kunst noch die <lb n="pba_333.030"/>
irgend einer anderen</hi> auf den Begriff des durch dieselbe hervorgebrachten &#x201E;<hi rendition="#g">Vergnügens</hi>&#x201C; <lb n="pba_333.031"/>
basiert werden, sondern lediglich <hi rendition="#g">auf die für jede Gattung und Art der <lb n="pba_333.032"/>
Kunst gesondert zu bestimmende Wirkungskraft, welche dem einzelnen <lb n="pba_333.033"/>
Kunstwerke gegenüber der Wahrnehmungs- und Empfindungsenergie <lb n="pba_333.034"/>
zu erteilen ist.</hi> War aber der Begriff der <hi rendition="#g">Hedone,</hi> des &#x201E;<hi rendition="#g">Vergnügens</hi>&#x201C;, aus <lb n="pba_333.035"/>
der Definition der Kunst auszuschließen, so konnte auch der Begriff der <hi rendition="#g">Schönheit</hi> <lb n="pba_333.036"/>
in ihr keine Stelle finden: denn nach Aristoteles ist &#x201E;<hi rendition="#g">das Schöne das Gute, sofern <lb n="pba_333.037"/>
es eben als Gutes Freude erweckt</hi>&#x201C; (cf. Rhet. I. c. 9: <foreign xml:lang="grc">&#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x1F78;&#x03BD; &#x03BC;&#x1F72;&#x03BD; &#x03BF;&#x1F56;&#x03BD;</foreign> <lb n="pba_333.038"/>
<foreign xml:lang="grc">&#x1F10;&#x03C3;&#x03C4;&#x1F76;&#x03BD;</foreign> ... <foreign xml:lang="grc">\&#x0314;&#x03BF; \&#x0313;&#x03B1;&#x03BD; &#x1F00;&#x03B3;&#x03B1;&#x03B8;&#x1F78;&#x03BD; \&#x0313;&#x03BF;&#x03BD; &#x1F21;&#x03B4;&#x1F7A; &#x1F96;, &#x1F45;&#x03C4;&#x03B9; &#x1F00;&#x03B3;&#x03B1;&#x03B8;&#x03CC;&#x03BD;</foreign>). Auf das Glücklichste ist in dieser <lb n="pba_333.039"/>
Definition des Schönen die absolute Natur desselben bezeichnet, während zugleich durch <lb n="pba_333.040"/>
dieselbe gegeben ist, daß in den einzelnen wirklichen Fällen die Frage, ob es nun auch <lb n="pba_333.041"/>
als Schönes erscheine, durch die Beschaffenheit des empfangenden Subjektes, also einen <lb n="pba_333.042"/>
nach Zeit, Nationen, Jndividuen variablen Faktor, entschieden wird. (Vgl. über diesen <lb n="pba_333.043"/>
Gegenstand das Nähere in der Schrift des Verfassers: &#x201E;<hi rendition="#g">Aristoteles, Lessing und <lb n="pba_333.044"/>
Goethe.</hi>&#x201C; Leipzig 1877. S. 66 ff. u. 71 ff.)</note>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[333/0351] pba_333.001 Bei der Kürze der eigentlichen Handlung, welche, wie bemerkt, pba_333.002 durch die äußeren Umstände gebieterisch für die dramatische Form der pba_333.003 Nachahmung gefordert wird, ist nun aber die geschilderte Wirkung nicht pba_333.004 anders denkbar, als wenn der dargestellte Schicksalsverlauf ein typischer pba_333.005 ist, im einzelnen Falle das im Ganzen vorhandene, Alles lenkende Gesetz pba_333.006 der Anschauung und Empfindung wahrnehmbar macht. Die nach dieser pba_333.007 Richtung hin prägnanteste, inhaltreichste, also schicksalsvollste Handlung pba_333.008 ist demgemäß die dramatisch beste. pba_333.009 Um einen sicheren Weg zur Feststellung der für das Drama gültigen pba_333.010 Gesetze über die Einrichtung der Handlung zu gewinnen, wird es pba_333.011 also erforderlich sein, jenen Begriff der „schicksalsvollsten“ Handlung pba_333.012 möglichst genau zu präcisieren. pba_333.013 Dabei zeigt sich sofort, wie verkehrt hier wie überall in der Kunst 1 1 pba_333.014 erst, und zwar sofern sie eine vollendete ist, die Freude naturgemäß und notwendig mit pba_333.015 sich bringt. Freude findet bei jeder Art einer so beschaffenen Bethätigung statt; diejenige pba_333.016 Art der Energie, für welche das Kunstwerk den Anlaß schasft, ist pba_333.017 die ästhetische, die Bethätigung der durch die Wahrnehmung erweckten pba_333.018 Empfindung. (Aristoteles drückt das kurzgefaßt so aus: οὐδὲ γὰρ ἄλλης ἐνεργείας pba_333.019 οὐδεμιᾶς τέχνη ἐστὶν, ἀλλὰ τῆς δυνάμεως.) Das Kunstwerk muß also diejenige pba_333.020 Beschaffenheit haben, welche der Energie der Ästhesis ein in vorzüglicher Weise für pba_333.021 ihre Bethätigung geeignetes Objekt in solcher Form vorführt, daß diese Bethätigung pba_333.022 auch in der vollendetsten Art erfolgen kann. Ob dieselbe aber erfolgt, ist eine Frage, pba_333.023 durch welche die Gesetzgebung des Kunstwerks durchaus nicht berührt wird: sein ἔργον, pba_333.024 seine Aufgabe, ist lediglich, die Möglichkeit einer solchen zu bereiten: τὴν δύναμιν. pba_333.025 Seine Wirkungen sind völlig objektiv, die Freude ist eine subjektive pba_333.026 Erscheinung, deren Entstehung davon abhängt, ob der Empfangende (πεισόμενος) das pba_333.027 Seinige dazu thut, jene Kraft, welche die Möglichkeit dazu gewährt (eben die im Kunstwerk pba_333.028 vorhandene δύναμις), in sich zur vollen Geltung gelangen zu lassen. Jst dieses pba_333.029 aber richtig, so kann weder die Definition der tragischen Kunst noch die pba_333.030 irgend einer anderen auf den Begriff des durch dieselbe hervorgebrachten „Vergnügens“ pba_333.031 basiert werden, sondern lediglich auf die für jede Gattung und Art der pba_333.032 Kunst gesondert zu bestimmende Wirkungskraft, welche dem einzelnen pba_333.033 Kunstwerke gegenüber der Wahrnehmungs- und Empfindungsenergie pba_333.034 zu erteilen ist. War aber der Begriff der Hedone, des „Vergnügens“, aus pba_333.035 der Definition der Kunst auszuschließen, so konnte auch der Begriff der Schönheit pba_333.036 in ihr keine Stelle finden: denn nach Aristoteles ist „das Schöne das Gute, sofern pba_333.037 es eben als Gutes Freude erweckt“ (cf. Rhet. I. c. 9: καλὸν μὲν οὖν pba_333.038 ἐστὶν ... \̔ο \̓αν ἀγαθὸν \̓ον ἡδὺ ᾖ, ὅτι ἀγαθόν). Auf das Glücklichste ist in dieser pba_333.039 Definition des Schönen die absolute Natur desselben bezeichnet, während zugleich durch pba_333.040 dieselbe gegeben ist, daß in den einzelnen wirklichen Fällen die Frage, ob es nun auch pba_333.041 als Schönes erscheine, durch die Beschaffenheit des empfangenden Subjektes, also einen pba_333.042 nach Zeit, Nationen, Jndividuen variablen Faktor, entschieden wird. (Vgl. über diesen pba_333.043 Gegenstand das Nähere in der Schrift des Verfassers: „Aristoteles, Lessing und pba_333.044 Goethe.“ Leipzig 1877. S. 66 ff. u. 71 ff.)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/351
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/351>, abgerufen am 22.11.2024.