pba_340.001 genügt es aber nicht, daß nur erzählt oder vorgeführt wird, diese oder pba_340.002 jene schöne Empfindung sei plötzlich da und bringe diese oder jene schöne pba_340.003 That hervor; dergleichen wirkt als bloßer Zufall, läßt uns gleichgültig pba_340.004 oder verdrießt uns sogar, sofern uns zugemutet wird, es als bedeutungsvoll pba_340.005 oder gar als edel anzuerkennen. Warum soll auch ein Jrokese nicht pba_340.006 einmal statt seinen Feind zu skalpieren ihn mit eigener Lebensgefahr pba_340.007 vom Tode erretten? Aber wir verlangen durch die Nachahmung wahrzunehmen, pba_340.008 wie das, und vollends bei einem Wilden, unter den erschwerendsten pba_340.009 Umständen nicht allein möglich, sondern wie es für ihn pba_340.010 eine Notwendigkeit wurde, so zu empfinden und so zu handeln. Mit pba_340.011 einem Worte die Nachahmung einer Handlung kann auch im Rahmen pba_340.012 der einfachen poetischen Erzählung sich niemals darauf beschränken dieselbe pba_340.013 aus einer einzelnen Empfindung, einem bloßen Pathos,pba_340.014 herzuleiten, sondern sie muß sie als ein notwendiges Ergebnis der zum pba_340.015 bleibenden Besitz gewordenen Gesinnungsweise darstellen, pba_340.016 des Ethos. Diese aber ist unter allen Umständen, auch unter den pba_340.017 denkbar primitivsten Lebensverhältnissen, immer nur das Produkt einer pba_340.018 Kultur, zu welcher innere Kräfte und äußere Ereignisse in anhaltender pba_340.019 Wechselwirkung thätig gewesen sein müssen. Je mehr es der Dichter pba_340.020 versteht uns von dieser ethischen Kultur seines Helden auch in der Kürze pba_340.021 der poetischen Erzählung eine lebhafte Vorstellung zu erwecken, desto pba_340.022 vollendeter ist sein Gedicht, je weniger er dazu gethan, desto mangelhafter.
pba_340.023
pba_340.024 Aber selbst eine so dargestellte Handlung würde nun doch eben pba_340.025 vornehmlich durch dieses in ihr zur Erscheinung kommende Ethos ästhetisch pba_340.026 interessieren, welches durch die vollständige Nachahmung korrespondierend pba_340.027 in dem Wahrnehmenden lebendig wird, und vorzüglich um pba_340.028 dieses willen käme der dargestellte Schicksalsverlauf in Betracht, wie pba_340.029 z. B. in Schillers "Bürgschaft". Nun bedeutet aber, wie früher pba_340.030 ausführlich erörtert, der Ausdruck "Handlung", insofern dieselbe pba_340.031 Gegenstand der Nachahmung ist, also für das Epos und Drama, pba_340.032 keineswegs nur die Äußerungen des inneren Ethos durch den Willensakt, pba_340.033 sondern den Komplex der freilich zu einem Teil damit in innerem pba_340.034 Zusammenhange stehenden, zum andern aber ganz unabhängig davon pba_340.035 eintretenden Ereignisse, also den Schicksalsverlauf: diesen als Einheit pba_340.036 wahrnehmbar zu machen und zur Empfindung zu bringen, und pba_340.037 zwar zur wohlgefälligen, ihn zu einem Gegenstande ästhetischen Genusses pba_340.038 zu machen ist der Zweck des Epos und des Dramas. Für diesen pba_340.039 Hauptzweck ist die Nachahmung des dazu mitwirkenden Ethos ein sekundäres pba_340.040 Hülfsmittel.
pba_340.001 genügt es aber nicht, daß nur erzählt oder vorgeführt wird, diese oder pba_340.002 jene schöne Empfindung sei plötzlich da und bringe diese oder jene schöne pba_340.003 That hervor; dergleichen wirkt als bloßer Zufall, läßt uns gleichgültig pba_340.004 oder verdrießt uns sogar, sofern uns zugemutet wird, es als bedeutungsvoll pba_340.005 oder gar als edel anzuerkennen. Warum soll auch ein Jrokese nicht pba_340.006 einmal statt seinen Feind zu skalpieren ihn mit eigener Lebensgefahr pba_340.007 vom Tode erretten? Aber wir verlangen durch die Nachahmung wahrzunehmen, pba_340.008 wie das, und vollends bei einem Wilden, unter den erschwerendsten pba_340.009 Umständen nicht allein möglich, sondern wie es für ihn pba_340.010 eine Notwendigkeit wurde, so zu empfinden und so zu handeln. Mit pba_340.011 einem Worte die Nachahmung einer Handlung kann auch im Rahmen pba_340.012 der einfachen poetischen Erzählung sich niemals darauf beschränken dieselbe pba_340.013 aus einer einzelnen Empfindung, einem bloßen Pathos,pba_340.014 herzuleiten, sondern sie muß sie als ein notwendiges Ergebnis der zum pba_340.015 bleibenden Besitz gewordenen Gesinnungsweise darstellen, pba_340.016 des Ethos. Diese aber ist unter allen Umständen, auch unter den pba_340.017 denkbar primitivsten Lebensverhältnissen, immer nur das Produkt einer pba_340.018 Kultur, zu welcher innere Kräfte und äußere Ereignisse in anhaltender pba_340.019 Wechselwirkung thätig gewesen sein müssen. Je mehr es der Dichter pba_340.020 versteht uns von dieser ethischen Kultur seines Helden auch in der Kürze pba_340.021 der poetischen Erzählung eine lebhafte Vorstellung zu erwecken, desto pba_340.022 vollendeter ist sein Gedicht, je weniger er dazu gethan, desto mangelhafter.
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pba_340.024 Aber selbst eine so dargestellte Handlung würde nun doch eben pba_340.025 vornehmlich durch dieses in ihr zur Erscheinung kommende Ethos ästhetisch pba_340.026 interessieren, welches durch die vollständige Nachahmung korrespondierend pba_340.027 in dem Wahrnehmenden lebendig wird, und vorzüglich um pba_340.028 dieses willen käme der dargestellte Schicksalsverlauf in Betracht, wie pba_340.029 z. B. in Schillers „Bürgschaft“. Nun bedeutet aber, wie früher pba_340.030 ausführlich erörtert, der Ausdruck „Handlung“, insofern dieselbe pba_340.031 Gegenstand der Nachahmung ist, also für das Epos und Drama, pba_340.032 keineswegs nur die Äußerungen des inneren Ethos durch den Willensakt, pba_340.033 sondern den Komplex der freilich zu einem Teil damit in innerem pba_340.034 Zusammenhange stehenden, zum andern aber ganz unabhängig davon pba_340.035 eintretenden Ereignisse, also den Schicksalsverlauf: diesen als Einheit pba_340.036 wahrnehmbar zu machen und zur Empfindung zu bringen, und pba_340.037 zwar zur wohlgefälligen, ihn zu einem Gegenstande ästhetischen Genusses pba_340.038 zu machen ist der Zweck des Epos und des Dramas. Für diesen pba_340.039 Hauptzweck ist die Nachahmung des dazu mitwirkenden Ethos ein sekundäres pba_340.040 Hülfsmittel.
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genügt es aber nicht, daß nur erzählt oder vorgeführt wird, diese oder pba_340.002
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/358>, abgerufen am 22.11.2024.
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