pba_341.001 Gerade an dieser Stelle zeigt sich nun aber die höchst bedeutende pba_341.002 Verschiedenheit, welche durch die Art der Nachahmung zwischen den pba_341.003 Bedingungen der epischen und denen der dramatischen Handlung hervorgebracht pba_341.004 wird.
pba_341.005 Hier wird Kürze gefordert, dort ist beliebige Breite gestattet: pba_341.006 daraus ergibt sich bei dem gemeinsamen Hauptzweck einen einheitlichen pba_341.007 und in sich vollständigen Schicksalsverlauf vorzuführen, pba_341.008 daß das Drama sich in der Darstellung des Ethos sorgfältig pba_341.009 auf das beschränken muß, was die Vollständigkeit der Handlung erfordert, pba_341.010 und daß diejenigen Handlungen für das Drama die geeignetsten pba_341.011 sein werden, die zu ihrer Vollständigkeit am wenigsten davon bedürfen, pba_341.012 deren Schicksalsverlauf am selbständigsten, von der ethischen Einwirkung pba_341.013 am unabhängigsten und dennoch gesetzmäßig und ästhetisch wohlgefällig pba_341.014 ist, d. h. die schicksalsvollsten. Züge, welche nur einzelne, richtige pba_341.015 oder sogenannte schöne Empfindungen vorführen, werden also in den pba_341.016 meisten Fällen ganz ausgeschlossen sein; das Drama wird vielmehr, wo pba_341.017 es gezwungen ist, Ethos nachzuahmen, sich auf die markantesten, typischen pba_341.018 Züge beschränken; Nebenhandlungen, welche nur dem Zwecke der pba_341.019 Schilderung von Empfindungen und Gesinnungen dienen, wird es nicht pba_341.020 dulden, ja dieselben überhaupt soviel wie möglich fortlassen und nur pba_341.021 aufnehmen dürfen, wo sie zur Vollständigkeit des Schicksalsverlaufes pba_341.022 unentbehrlich sind, dessen inneren Zusammenhang oder äußeres Fortschreiten pba_341.023 klarlegen.
pba_341.024 Diese Sätze scheinen einem modernen Haupt- und Lieblings-Dogma pba_341.025 zu widersprechen: daß es die oberste Aufgabe des Dramas sei Charaktere pba_341.026 zu schildern. Aber der Begriff des Charakters deckt sich keineswegs pba_341.027 mit dem Jnbegriff der Empfindungs- und Gesinnungsweise, die pba_341.028 nur die Voraussetzung, den Untergrund dessen bilden, worin er sich pba_341.029 zeigt: des Handelns. Das Handeln wird durch die Willensentscheidung pba_341.030 bestimmt, diese ist abhängig von dem, was die Griechen die pba_341.031 Phronesis nennen, eine Vereinigung von richtigem Ethos mit Klugheit, pba_341.032 Einsicht und Besonnenheit. Auf dem Grunde der gegebenen pba_341.033 Umstände und Verhältnisse läßt das Handeln direkt, ohne weitere pba_341.034 Schilderung, erkennen, inwieweit die Phronesis dazu mitgewirkt hat pba_341.035 oder durch Leidenschaft, egoistisches oder anderes Jnteresse beeinträchtigt pba_341.036 ist. Hieraus erhellt deutlich, daß es für die dramatische Handlung vor pba_341.037 allem andern darauf ankommt, daß die von vorne herein gegebene Lage pba_341.038 der Dinge und ihre weitere Fortentwickelung solche seien, die zu entscheidendem, pba_341.039 also auch charakteristischem Handeln Veranlassung geben, pba_341.040 ja welche dazu zwingen: sei es nun, daß der Handelnde in solche
pba_341.001 Gerade an dieser Stelle zeigt sich nun aber die höchst bedeutende pba_341.002 Verschiedenheit, welche durch die Art der Nachahmung zwischen den pba_341.003 Bedingungen der epischen und denen der dramatischen Handlung hervorgebracht pba_341.004 wird.
pba_341.005 Hier wird Kürze gefordert, dort ist beliebige Breite gestattet: pba_341.006 daraus ergibt sich bei dem gemeinsamen Hauptzweck einen einheitlichen pba_341.007 und in sich vollständigen Schicksalsverlauf vorzuführen, pba_341.008 daß das Drama sich in der Darstellung des Ethos sorgfältig pba_341.009 auf das beschränken muß, was die Vollständigkeit der Handlung erfordert, pba_341.010 und daß diejenigen Handlungen für das Drama die geeignetsten pba_341.011 sein werden, die zu ihrer Vollständigkeit am wenigsten davon bedürfen, pba_341.012 deren Schicksalsverlauf am selbständigsten, von der ethischen Einwirkung pba_341.013 am unabhängigsten und dennoch gesetzmäßig und ästhetisch wohlgefällig pba_341.014 ist, d. h. die schicksalsvollsten. Züge, welche nur einzelne, richtige pba_341.015 oder sogenannte schöne Empfindungen vorführen, werden also in den pba_341.016 meisten Fällen ganz ausgeschlossen sein; das Drama wird vielmehr, wo pba_341.017 es gezwungen ist, Ethos nachzuahmen, sich auf die markantesten, typischen pba_341.018 Züge beschränken; Nebenhandlungen, welche nur dem Zwecke der pba_341.019 Schilderung von Empfindungen und Gesinnungen dienen, wird es nicht pba_341.020 dulden, ja dieselben überhaupt soviel wie möglich fortlassen und nur pba_341.021 aufnehmen dürfen, wo sie zur Vollständigkeit des Schicksalsverlaufes pba_341.022 unentbehrlich sind, dessen inneren Zusammenhang oder äußeres Fortschreiten pba_341.023 klarlegen.
pba_341.024 Diese Sätze scheinen einem modernen Haupt- und Lieblings-Dogma pba_341.025 zu widersprechen: daß es die oberste Aufgabe des Dramas sei Charaktere pba_341.026 zu schildern. Aber der Begriff des Charakters deckt sich keineswegs pba_341.027 mit dem Jnbegriff der Empfindungs- und Gesinnungsweise, die pba_341.028 nur die Voraussetzung, den Untergrund dessen bilden, worin er sich pba_341.029 zeigt: des Handelns. Das Handeln wird durch die Willensentscheidung pba_341.030 bestimmt, diese ist abhängig von dem, was die Griechen die pba_341.031 Phronesis nennen, eine Vereinigung von richtigem Ethos mit Klugheit, pba_341.032 Einsicht und Besonnenheit. Auf dem Grunde der gegebenen pba_341.033 Umstände und Verhältnisse läßt das Handeln direkt, ohne weitere pba_341.034 Schilderung, erkennen, inwieweit die Phronesis dazu mitgewirkt hat pba_341.035 oder durch Leidenschaft, egoistisches oder anderes Jnteresse beeinträchtigt pba_341.036 ist. Hieraus erhellt deutlich, daß es für die dramatische Handlung vor pba_341.037 allem andern darauf ankommt, daß die von vorne herein gegebene Lage pba_341.038 der Dinge und ihre weitere Fortentwickelung solche seien, die zu entscheidendem, pba_341.039 also auch charakteristischem Handeln Veranlassung geben, pba_341.040 ja welche dazu zwingen: sei es nun, daß der Handelnde in solche
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Gerade an dieser Stelle zeigt sich nun aber die höchst bedeutende pba_341.002
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/359>, abgerufen am 22.11.2024.
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