Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_022.001 pba_022.004 pba_022.013 pba_022.015 pba_022.021 pba_022.028 1 pba_022.032 Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt: pba_022.033 Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? pba_022.034 Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr. 2 pba_022.035
Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend pba_022.036 Körper nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die pba_022.037 Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die pba_022.038 Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen pba_022.039 dabei den gleichen Zweck (telos): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand pba_022.040 nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist. pba_022.001 pba_022.004 pba_022.013 pba_022.015 pba_022.021 pba_022.028 1 pba_022.032 Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt: pba_022.033 Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? pba_022.034 Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr. 2 pba_022.035
Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend pba_022.036 Körper nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die pba_022.037 Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die pba_022.038 Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen pba_022.039 dabei den gleichen Zweck (τέλος): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand pba_022.040 nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0040" n="22"/><lb n="pba_022.001"/> Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem <lb n="pba_022.002"/> griechischen Ausdruck <foreign xml:lang="grc"><hi rendition="#g">ἦθος</hi></foreign> — <hi rendition="#g">Ethos</hi> — verstanden wird; endlich die <lb n="pba_022.003"/> <hi rendition="#g">Handlungen</hi> im inneren Sinne — <foreign xml:lang="grc">πράξεις</foreign> —.</p> <p><lb n="pba_022.004"/> Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung — <foreign xml:lang="grc">πάθος</foreign>, <lb n="pba_022.005"/> <foreign xml:lang="grc">ἦθος, πρᾶξις</foreign> — sind <hi rendition="#g">direkt</hi> überhaupt <hi rendition="#g">gar nicht</hi> darstellbar.<note xml:id="pba_022_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_022.032"/> Auch durch die <hi rendition="#g">Sprache</hi> nicht; wie Schiller es ausdrückt: <lb n="pba_022.033"/> <lg><l>Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?</l><lb n="pba_022.034"/><l><hi rendition="#g">Spricht</hi> die Seele, so spricht, ach! schon die <hi rendition="#g">Seele</hi> nicht mehr.</l></lg></note> Jm <lb n="pba_022.006"/> Grunde kann ihre Nachahmung überall nur <hi rendition="#g">andeutungsweise</hi> erfolgen; <lb n="pba_022.007"/> in der Malerei vermittelst der Linien und Farben, durch <lb n="pba_022.008"/> <hi rendition="#g">Körper,</hi> in der Poesie vermittelst der Succession von Worten, durch <lb n="pba_022.009"/> das, was man mit Lessing im allerweitesten Sinne (äußere) <hi rendition="#g">Handlung</hi> <lb n="pba_022.010"/> nennen mag, wenn man darunter auch jeden kleinsten, aus der Kombination <lb n="pba_022.011"/> von Sinneseindruck und damit sich verknüpfendem Empfindungsmoment <lb n="pba_022.012"/> zusammengesetzten <hi rendition="#g">Vorgang</hi> verstehen will.</p> <p><lb n="pba_022.013"/><hi rendition="#g">Absolut</hi> betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen <lb n="pba_022.014"/> drei Gegenständen der Nachahmung ganz gleich gegenüber.</p> <p><lb n="pba_022.015"/><hi rendition="#g">Relativ</hi> aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel, <lb n="pba_022.016"/> daß die Poesie ganz direkt <hi rendition="#g">Handlung</hi> (<foreign xml:lang="grc">πρᾶξις</foreign>) nachahmen kann, <hi rendition="#g">Empfindung</hi> <lb n="pba_022.017"/> und <hi rendition="#g">Seelenzustand</hi> (<foreign xml:lang="grc">πάθος</foreign> und <foreign xml:lang="grc">ἦθος</foreign>) indirekt durch <lb n="pba_022.018"/> Handlungen;<note xml:id="pba_022_2" place="foot" n="2"><lb n="pba_022.035"/> Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen <hi rendition="#g">andeutend <lb n="pba_022.036"/> Körper</hi> nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die <lb n="pba_022.037"/> Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die <lb n="pba_022.038"/> Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen <lb n="pba_022.039"/> dabei den gleichen Zweck (<foreign xml:lang="grc">τέλος</foreign>): <hi rendition="#g">vermittelst</hi> dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand <lb n="pba_022.040"/> nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist.</note> und umgekehrt die Malerei ganz direkt <hi rendition="#g">Empfindung</hi> <lb n="pba_022.019"/> und <hi rendition="#g">Seelenzustand</hi> (<foreign xml:lang="grc">πάθος</foreign> und <foreign xml:lang="grc">ἦθος</foreign>) (<hi rendition="#g">nicht</hi> Körper!), indirekt <lb n="pba_022.020"/> durch jene auch <hi rendition="#g">Handlung</hi> (<foreign xml:lang="grc">πρᾶξις</foreign>).</p> <p><lb n="pba_022.021"/> Die Bedingungen, unter denen solche <hi rendition="#g">indirekte</hi> Nachahmung in <lb n="pba_022.022"/> beiden Künsten möglich wird, lassen sich darnach auf das einfachste bestimmen. <lb n="pba_022.023"/> <hi rendition="#g">Handlungen</hi> sind für den bildenden Künstler darstellbar, <lb n="pba_022.024"/> sobald die den Entschluß bedingenden Empfindungen und Seelenzustände <lb n="pba_022.025"/> in den Zeichen der Körperformen und -Farben sichtbar sich direkt zu <lb n="pba_022.026"/> erkennen geben, oder sofern es ihm gelingt sie durch die Aehnlichkeit <lb n="pba_022.027"/> körperlicher Zeichen indirekt erkennbar zu machen.</p> <p><lb n="pba_022.028"/> Ebenso sind der Nachahmung durch die Poesie alle <foreign xml:lang="grc">πάθη</foreign> und <foreign xml:lang="grc">ἤθη</foreign>, <lb n="pba_022.029"/> alle <hi rendition="#g">Empfindungen</hi> und <hi rendition="#g">Seelenzustände</hi> zugänglich, sobald sie erstlich <lb n="pba_022.030"/> in der Bewegung der Körper oder Dinge, oder in successiven Vorgängen <lb n="pba_022.031"/> oder Handlungen unmittelbar sich kundgeben; sodann aber auch </p> </div> </body> </text> </TEI> [22/0040]
pba_022.001
Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem pba_022.002
griechischen Ausdruck ἦθος — Ethos — verstanden wird; endlich die pba_022.003
Handlungen im inneren Sinne — πράξεις —.
pba_022.004
Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung — πάθος, pba_022.005
ἦθος, πρᾶξις — sind direkt überhaupt gar nicht darstellbar. 1 Jm pba_022.006
Grunde kann ihre Nachahmung überall nur andeutungsweise erfolgen; pba_022.007
in der Malerei vermittelst der Linien und Farben, durch pba_022.008
Körper, in der Poesie vermittelst der Succession von Worten, durch pba_022.009
das, was man mit Lessing im allerweitesten Sinne (äußere) Handlung pba_022.010
nennen mag, wenn man darunter auch jeden kleinsten, aus der Kombination pba_022.011
von Sinneseindruck und damit sich verknüpfendem Empfindungsmoment pba_022.012
zusammengesetzten Vorgang verstehen will.
pba_022.013
Absolut betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen pba_022.014
drei Gegenständen der Nachahmung ganz gleich gegenüber.
pba_022.015
Relativ aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel, pba_022.016
daß die Poesie ganz direkt Handlung (πρᾶξις) nachahmen kann, Empfindung pba_022.017
und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) indirekt durch pba_022.018
Handlungen; 2 und umgekehrt die Malerei ganz direkt Empfindung pba_022.019
und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) (nicht Körper!), indirekt pba_022.020
durch jene auch Handlung (πρᾶξις).
pba_022.021
Die Bedingungen, unter denen solche indirekte Nachahmung in pba_022.022
beiden Künsten möglich wird, lassen sich darnach auf das einfachste bestimmen. pba_022.023
Handlungen sind für den bildenden Künstler darstellbar, pba_022.024
sobald die den Entschluß bedingenden Empfindungen und Seelenzustände pba_022.025
in den Zeichen der Körperformen und -Farben sichtbar sich direkt zu pba_022.026
erkennen geben, oder sofern es ihm gelingt sie durch die Aehnlichkeit pba_022.027
körperlicher Zeichen indirekt erkennbar zu machen.
pba_022.028
Ebenso sind der Nachahmung durch die Poesie alle πάθη und ἤθη, pba_022.029
alle Empfindungen und Seelenzustände zugänglich, sobald sie erstlich pba_022.030
in der Bewegung der Körper oder Dinge, oder in successiven Vorgängen pba_022.031
oder Handlungen unmittelbar sich kundgeben; sodann aber auch
1 pba_022.032
Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt: pba_022.033
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? pba_022.034
Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.
2 pba_022.035
Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend pba_022.036
Körper nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die pba_022.037
Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die pba_022.038
Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen pba_022.039
dabei den gleichen Zweck (τέλος): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand pba_022.040
nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |