pba_022.001 Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem pba_022.002 griechischen Ausdruck ethos -- Ethos -- verstanden wird; endlich die pba_022.003 Handlungen im inneren Sinne -- praxeis --.
pba_022.004 Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung -- pathos, pba_022.005 ethos, praxis -- sind direkt überhaupt gar nicht darstellbar.1 Jm pba_022.006 Grunde kann ihre Nachahmung überall nur andeutungsweise erfolgen; pba_022.007 in der Malerei vermittelst der Linien und Farben, durch pba_022.008 Körper, in der Poesie vermittelst der Succession von Worten, durch pba_022.009 das, was man mit Lessing im allerweitesten Sinne (äußere) Handlungpba_022.010 nennen mag, wenn man darunter auch jeden kleinsten, aus der Kombination pba_022.011 von Sinneseindruck und damit sich verknüpfendem Empfindungsmoment pba_022.012 zusammengesetzten Vorgang verstehen will.
pba_022.013 Absolut betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen pba_022.014 drei Gegenständen der Nachahmung ganz gleich gegenüber.
pba_022.015 Relativ aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel, pba_022.016 daß die Poesie ganz direkt Handlung (praxis) nachahmen kann, Empfindungpba_022.017 und Seelenzustand (pathos und ethos) indirekt durch pba_022.018 Handlungen;2 und umgekehrt die Malerei ganz direkt Empfindungpba_022.019 und Seelenzustand (pathos und ethos) (nicht Körper!), indirekt pba_022.020 durch jene auch Handlung (praxis).
pba_022.021 Die Bedingungen, unter denen solche indirekte Nachahmung in pba_022.022 beiden Künsten möglich wird, lassen sich darnach auf das einfachste bestimmen. pba_022.023 Handlungen sind für den bildenden Künstler darstellbar, pba_022.024 sobald die den Entschluß bedingenden Empfindungen und Seelenzustände pba_022.025 in den Zeichen der Körperformen und -Farben sichtbar sich direkt zu pba_022.026 erkennen geben, oder sofern es ihm gelingt sie durch die Aehnlichkeit pba_022.027 körperlicher Zeichen indirekt erkennbar zu machen.
pba_022.028 Ebenso sind der Nachahmung durch die Poesie alle pathe und ethe, pba_022.029 alle Empfindungen und Seelenzustände zugänglich, sobald sie erstlich pba_022.030 in der Bewegung der Körper oder Dinge, oder in successiven Vorgängen pba_022.031 oder Handlungen unmittelbar sich kundgeben; sodann aber auch
1pba_022.032 Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt: pba_022.033
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?pba_022.034 Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.
2pba_022.035 Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend pba_022.036 Körper nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die pba_022.037 Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die pba_022.038 Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen pba_022.039 dabei den gleichen Zweck (telos): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand pba_022.040 nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist.
pba_022.001 Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem pba_022.002 griechischen Ausdruck ἦθος — Ethos — verstanden wird; endlich die pba_022.003 Handlungen im inneren Sinne — πράξεις —.
pba_022.004 Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung — πάθος, pba_022.005 ἦθος, πρᾶξις — sind direkt überhaupt gar nicht darstellbar.1 Jm pba_022.006 Grunde kann ihre Nachahmung überall nur andeutungsweise erfolgen; pba_022.007 in der Malerei vermittelst der Linien und Farben, durch pba_022.008 Körper, in der Poesie vermittelst der Succession von Worten, durch pba_022.009 das, was man mit Lessing im allerweitesten Sinne (äußere) Handlungpba_022.010 nennen mag, wenn man darunter auch jeden kleinsten, aus der Kombination pba_022.011 von Sinneseindruck und damit sich verknüpfendem Empfindungsmoment pba_022.012 zusammengesetzten Vorgang verstehen will.
pba_022.013 Absolut betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen pba_022.014 drei Gegenständen der Nachahmung ganz gleich gegenüber.
pba_022.015 Relativ aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel, pba_022.016 daß die Poesie ganz direkt Handlung (πρᾶξις) nachahmen kann, Empfindungpba_022.017 und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) indirekt durch pba_022.018 Handlungen;2 und umgekehrt die Malerei ganz direkt Empfindungpba_022.019 und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) (nicht Körper!), indirekt pba_022.020 durch jene auch Handlung (πρᾶξις).
pba_022.021 Die Bedingungen, unter denen solche indirekte Nachahmung in pba_022.022 beiden Künsten möglich wird, lassen sich darnach auf das einfachste bestimmen. pba_022.023 Handlungen sind für den bildenden Künstler darstellbar, pba_022.024 sobald die den Entschluß bedingenden Empfindungen und Seelenzustände pba_022.025 in den Zeichen der Körperformen und -Farben sichtbar sich direkt zu pba_022.026 erkennen geben, oder sofern es ihm gelingt sie durch die Aehnlichkeit pba_022.027 körperlicher Zeichen indirekt erkennbar zu machen.
pba_022.028 Ebenso sind der Nachahmung durch die Poesie alle πάθη und ἤθη, pba_022.029 alle Empfindungen und Seelenzustände zugänglich, sobald sie erstlich pba_022.030 in der Bewegung der Körper oder Dinge, oder in successiven Vorgängen pba_022.031 oder Handlungen unmittelbar sich kundgeben; sodann aber auch
1pba_022.032 Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt: pba_022.033
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?pba_022.034 Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.
2pba_022.035 Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend pba_022.036 Körper nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die pba_022.037 Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die pba_022.038 Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen pba_022.039 dabei den gleichen Zweck (τέλος): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand pba_022.040 nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist.
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[22/0040]
pba_022.001
Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem pba_022.002
griechischen Ausdruck ἦθος — Ethos — verstanden wird; endlich die pba_022.003
Handlungen im inneren Sinne — πράξεις —.
pba_022.004
Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung — πάθος, pba_022.005
ἦθος, πρᾶξις — sind direkt überhaupt gar nicht darstellbar. 1 Jm pba_022.006
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Absolut betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen pba_022.014
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Relativ aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel, pba_022.016
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1 pba_022.032
Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt: pba_022.033
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? pba_022.034
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Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend pba_022.036
Körper nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die pba_022.037
Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die pba_022.038
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/40>, abgerufen am 16.07.2024.
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