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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Weise, insofern durch die fortlaufende Häufung für sich allein nicht als pba_389.002
verhängnisvoll erscheinender Jrrungen zuletzt doch bedeutende Entscheidungen pba_389.003
sich bereiten. Um derartige ihrer Natur nach lang andauernde, pba_389.004
allmählich anwachsende Entwickelungen in den präcisen Ablauf der vor pba_389.005
den Augen sich ereignenden dramatischen Handlung zu bannen, wird pba_389.006
der Dichter, je bedeutender er sich seine Aufgabe stellt, um so mehr gezwungen pba_389.007
sein, die Hülfe der Phantasie in Anspruch zu nehmen, sowohl pba_389.008
bei seinem Werke als bei den Zuschauern, die dessen Wirkung pba_389.009
erfahren sollen: er wird kühne Verkürzungen, Verdichtungen einer Kette pba_389.010
von Einzelvorgängen zu einem einzigen Ereignis anwenden, er wird zur pba_389.011
Symbolik greifen, des Wunderbaren sich frei bedienen, über Ort und pba_389.012
Zeit hinwegschreiten, hunderterlei in dem äußeren Pragmatismus ignorieren pba_389.013
dürfen, wenn das alles ihm nur hilft der inneren pba_389.014
Wahrheit zu desto sicherer, vollständigerer, reinerer Wirkung pba_389.015
in Anschauung und Empfindung seiner Zuschauer zu pba_389.016
verhelfen,
d. i. im strengen künstlerischen Sinne "zu gefallen".

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Diesen Gesetzen und dieser Technik hat Shakespeare mit der anmutvollsten pba_389.018
Phantasie ein selbständiges Leben erteilt und sie zu dem pba_389.019
Gegenstande der luftigen Handlung seines "Sturms" gemacht. Er pba_389.020
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die Zauberkraft, diese Symbolik nicht zur frostigen Allegorie pba_389.021
ausarten zu lassen, sondern ihr den Schein frischen, eigenen Lebens zu pba_389.022
bewahren; so fesseln uns die Personen und Vorgänge des Stückes durch pba_389.023
die feste Bestimmtheit der Realität, die volle, warme Jndividualität bei pba_389.024
aller Phantastik ihrer Erscheinung und ergötzen uns abwechselnd durch pba_389.025
das reine Wohlgefallen an sanftem Reiz und edler Würde und pba_389.026
durch die klar und sicher empfundene Mißbilligung des pba_389.027
Fehlerhaften, die hier als eine Mischung aller denkbaren Gradationen pba_389.028
sich darstellt: vom verzeihenden Tadel bis zur stärksten Jndignation, vom pba_389.029
Verlachen bis zur Verachtung und zum Abscheu.

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So groß ist Shakespeares Kunst, daß die Wirkung des ganz singulären pba_389.031
Dramas eine allmächtige und von jedermann empfundene ist, pba_389.032
trotzdem der prüfenden Erwägung hundertfältige Bedenken allenthalben pba_389.033
sich entgegenstellen, so lange die strenge Einheitlichkeit der wundervollen pba_389.034
Komposition und ihre mit vollkommener Konsequenz bis in die kleinsten pba_389.035
Züge festgehaltene Durchführung nicht erkannt ist.

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Es erscheint wie eine Probe der Rechnung, wenn man untersucht, pba_389.037
wie Shakespeare die im Bilde entworfene Theorie nun in der Praxis pba_389.038
angewendet hat. Das "Wintermärchen" ist noch nach dem "Sturm" pba_389.039
entstanden und gilt als seine letzte Dichtung; durch die Fremdartigkeit pba_389.040
seiner Form fordert es die theoretische Kritik mehr heraus als irgend

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verhelfen,
d. i. im strengen künstlerischen Sinne „zu gefallen“.

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Diesen Gesetzen und dieser Technik hat Shakespeare mit der anmutvollsten pba_389.018
Phantasie ein selbständiges Leben erteilt und sie zu dem pba_389.019
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sich darstellt: vom verzeihenden Tadel bis zur stärksten Jndignation, vom pba_389.029
Verlachen bis zur Verachtung und zum Abscheu.

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So groß ist Shakespeares Kunst, daß die Wirkung des ganz singulären pba_389.031
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/407>, abgerufen am 31.10.2024.