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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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eine Unsicherheit seiner Heldin in diesem Punkte würde ihren Charakter pba_490.002
aufheben und damit das ganze Stück über den Haufen werfen. Nicht pba_490.003
die Furcht, sich selbst zu verlieren, läßt Emilia den Tod so begierig suchen pba_490.004
-- diese fleckenlose Natur würde keiner Art der Verführung erreichbar pba_490.005
sein, auch ohne das furchtbare Ereignis, unter dessen Eindruck sie steht, pba_490.006
auch ist der Charakter ihres Bedrohers so angelegt, daß vor dem Adel pba_490.007
dieser reinen Seele sein schlimmes Gelüste die Angriffskraft verlieren pba_490.008
würde --, ihr Lebensüberdruß entspringt aus dem verwirrten Tumult pba_490.009
ihrer Seele, aus dem namenlosen, starren Entsetzen über den unerhörten pba_490.010
Einbruch in die heilige Welt ihres sittlichen Empfindens. Aber pba_490.011
das ganz Singuläre ihres Wesens ist, daß das Resultat nicht stolze pba_490.012
Empörung ist, nicht Aufraffung zur Abwehr, nicht Umblick nach Rettung, pba_490.013
sondern glühende Scham aus dem Gefühl frevelhafter Antastung und pba_490.014
nur das eine brennende Verlangen, der abermaligen Berührung mit dem pba_490.015
Laster zu entfliehen, die sie wie eigene Verschuldung empfindet. Das pba_490.016
"Und warum er tot ist! warum!" entspringt nicht allein dem quälenden pba_490.017
Bewußtsein, jene rechtzeitige Mitteilung an den Grafen unterlassen pba_490.018
zu haben, sondern weit mehr noch der verzweifelten Gewißheit, pba_490.019
daß der Reiz ihrer Schönheit die Ursache seines Todes ist: diesen pba_490.020
Reiz fürchtet, verabscheut sie nun wie etwas, wodurch ihre Reinheit in pba_490.021
die Gemeinschaft mit dem Sündigen hineingezogen ist, was zwischen ihr pba_490.022
und ihrer Seele steht, so daß sie sich selbst nicht mehr vertrauen mag, pba_490.023
daß sie nur den einen leidenschaftlichen Wunsch hat, den Körper zu pba_490.024
zerstören, um wie ihre "Heiligen" das reine innere Leben zu retten. pba_490.025
Aus solcher ungestümen Schwärmerei fließen ihre Worte und -- noch pba_490.026
aus einem zweiten: es gibt keinen sophistischeren Advokaten als die pba_490.027
schwärmerische Leidenschaft; um den Vater zur Einstimmung fortzureißen, pba_490.028
wählt sie die Gründe und gibt ihnen gerade den, wie soll man sagen, pba_490.029
geradesten, durch seine Unumwundenheit aufreizendsten, Ausdruck, der pba_490.030
der Erreichung ihrer Absicht, ihrer krankhaften Sehnsucht am förderlichsten pba_490.031
ist. Und der Vater? -- der sie vor sich selbst schützen sollte, mit Aufbietung pba_490.032
seiner ganzen moralischen Kraft sie zur Besinnung bringen? -- pba_490.033
er übernimmt selbst die grausige Vollziehung, überwältigt von demselben pba_490.034
Sturm der Empfindung, der, nur von einer andern Seite her aufgesprungen, pba_490.035
ihn demselben Strudel zutreibt!

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Damit hat diese erschütternde, unnennbare Rührung erweckende, pba_490.037
Tragödie ihr Ende. Und mit vollem Recht! Hier ist kein Platz mehr pba_490.038
für weitere Katastrophen. Die Opferung Emiliens und Odoardos geschieht pba_490.039
in der bestimmt ausgesprochenen Absicht, daß die Strafe des pba_490.040
Prinzen in dem zerschmetternden Bewußtsein seiner reuigen Zerknirschung

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aufheben und damit das ganze Stück über den Haufen werfen. Nicht pba_490.003
die Furcht, sich selbst zu verlieren, läßt Emilia den Tod so begierig suchen pba_490.004
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auch ist der Charakter ihres Bedrohers so angelegt, daß vor dem Adel pba_490.007
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ihrer Seele, aus dem namenlosen, starren Entsetzen über den unerhörten pba_490.010
Einbruch in die heilige Welt ihres sittlichen Empfindens. Aber pba_490.011
das ganz Singuläre ihres Wesens ist, daß das Resultat nicht stolze pba_490.012
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/508>, abgerufen am 22.11.2024.