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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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liegen soll, sie wird dem höheren Richter überlassen. Es scheint, Lessing pba_491.002
habe die Empfindung gehabt, der Prinz käme mit einem kurzen Dolchstoß pba_491.003
des erzürnten Vaters zu wohlfeil fort; es läge eine nachhaltigere pba_491.004
Wirkung darin, wenn die Anklage über ihm schwebend bliebe und die pba_491.005
Vergeltung in die drohende Zukunft eines Lebens voll Qual verlegt pba_491.006
würde, wogegen ein blutiger Tod fast als eine Absolvierung gelten pba_491.007
könnte. Diese Erwägung ist unzweifelhaft richtig; die Tragödie Lessings, pba_491.008
wie sie ist, duldet keine Änderung. Aber der Fehler steckt in der Anlage, pba_491.009
wonach er das großartige Virginia-Motiv auf eine Familientragödie reduzierte pba_491.010
und nur die mitleidswürdige Seite desselben herausarbeitete, pba_491.011
während er die furchtbare vorsätzlich zurücktreten ließ. Gewiß erweckt pba_491.012
der willkürliche Racheakt eines einzelnen Menschen bei weitem nicht die pba_491.013
Vorstellung von der Furchtbarkeit der Schicksalsgewalt, als wenn, wie pba_491.014
in der Antigone, wir diese Gewalt gewissermaßen selbst handelnd auftreten pba_491.015
sehen, wenn wir gewahren, wie eine unsichtbare höhere Macht pba_491.016
den Frevelnden durch seine eigenen Entschließungen zu dem seinen Absichten pba_491.017
am weitesten entgegengesetzten Ziele führt. Deshalb bestand pba_491.018
umgekehrt die Aufgabe für diesen Stoff darin, die Kraft seiner Wirkung pba_491.019
auf die Furchtbarkeit der darin sich vollziehenden Peripetie pba_491.020
zu gründen, der zur Vollendung der echten tragischen Katharsis "symmetrisch" pba_491.021
die mitleidige Rührung sich hinzugesellen mußte über unverschuldetes, pba_491.022
aber durch leichte Hamartie veranlaßtes Leiden. Lessing pba_491.023
basierte seine Tragödie allein auf die letztere; aber es fehlt ihr die Kraft, pba_491.024
die Furchtempfindung ebenbürtig zu erwecken, weil hier die tragische pba_491.025
Katastrophe selbst die Hamartie darstellt, statt durch die Hamartie pba_491.026
unvermeidlich herbeigeführt zu werden. Der am letzten Ende pba_491.027
alles entscheidende Entschluß Odoardos beruht auf einem starken Verstandesirrtum, pba_491.028
den Lessings Kunst begreiflich zu machen wußte, der pba_491.029
aber unter allen denkbaren Hamartien die geringste Kraft besitzt, die pba_491.030
tragische Furchtempfindung in Bewegung zu setzen, da die Vorstellung pba_491.031
der Unvermeidlichkeit, also der Allgemeinheit des damit verbundenen pba_491.032
Geschickes, dabei am schwächsten mitgeteilt wird. Selbst wenn Odoardo pba_491.033
in dem Glauben war, daß seiner Tochter Ehre unrettbar dem Prinzen pba_491.034
preisgegeben war -- ein Glaube, der, an sich irrtümlich, wohl allenfalls pba_491.035
durch die sophistische Selbstanklage Emiliens in ihm momentan erregt pba_491.036
werden konnte --, so hatte er mit seinem Entschluß, durch eine Gewaltthat, pba_491.037
bei der er sich selbst opferte, das Netz zu zerreißen, noch immer pba_491.038
die Wahl den Prinzen zu töten und die Tochter zu befreien. Dieser pba_491.039
Ausweg war der in jeder Beziehung zunächst liegende: der für die pba_491.040
Leidenschaft natürlichste, der den Gerechtigkeitssinn minder verletzende,

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/509>, abgerufen am 22.11.2024.