pba_492.001 der weniger grausame; nur die seltsame Verbindung von jäher Hitze und pba_492.002 moralischer Skrupulosität, die Lessing eigens für diesen Zweck komponiert pba_492.003 hat, konnte diese herzzerreißendste aber auch künstlichste Lösung annehmbar pba_492.004 machen.
pba_492.005 "Die Zeit in der Tragödie ist furchtbar, wie das Schicksal pba_492.006 selbst," sagt Kuno Fischer,1 "und ich kenne kein Trauerspiel, worin mir pba_492.007 diese Furchtbarkeit so eingeleuchtet hätte, wie hier, keines, worin jede pba_492.008 Handlung und jede Unterlassung so wie hier an ihren Zeitpunkt gekettet pba_492.009 wäre. Dies gilt auch von dem Moment, worin Emilia den Entschluß pba_492.010 zu sterben faßt; auch von dem Augenblick, worin Odoardo sie tötet. pba_492.011 Dadurch wird die Notwendigkeit der Handlungen nicht abgemindert, pba_492.012 sondern in Wahrheit erst vollendet." Darin liegt ein sehr schwerer pba_492.013 Jrrtum. Eine jede unglückliche Übereilung wird durch den Moment, an pba_492.014 den sie gekettet ist, psychologisch erklärlich; sie wird sicherlich, je mehr sie pba_492.015 das ist, um so beklagenswerter sein, aber in demselben Maße, als das pba_492.016 Mitleid durch die Erwägung wächst, daß nur der Moment, und zwar pba_492.017 nur für einen ganz eigenartigen Charakter, den unglücklichen Entschluß pba_492.018 verschuldete, wird naturgemäß die Furcht, d. h. die Vorstellung, daß das pba_492.019 durch diesen Entschluß bedingte Schicksal als ein allgemein vorauszusetzendes, pba_492.020 unvermeidliches zu gelten habe, abgeschwächt werden: eine pba_492.021 solche That wird, je heftiger sie uus rührt, um so pba_492.022 weniger furchtbar sein.
pba_492.023 Äußerungen wie die eben citierte Kuno Fischers bestätigen nur die pba_492.024 Thatsache, daß auf diesem Gebiete eine schwer zu lösende Verwirrung pba_492.025 herrscht, eine Verwirrung, die außer durch Lessings und Schillers irrtümliche pba_492.026 Theorie zum großen Teil durch den nach dem Sprachgebrauch pba_492.027 mit dem Wort "furchtbar" verbundenen Sinn verschuldet sein mag. pba_492.028 Wir sprechen von einem "furchtbaren Unglück", wenn jemand bei pba_492.029 der Ersteigung des Matterhorns im Absturz zerschmettert wird, wenn pba_492.030 auf offener See durch einen Schiffsbrand die Bemannung den Tod findet, pba_492.031 oder wenn ein überführter Fälscher seine ganze Familie und sich selbst pba_492.032 ums Leben bringt: und doch kann in keinem dieser Fälle von "tragischer pba_492.033 Furcht" die Rede sein, während ein jeder derselben, in entsprechender pba_492.034 Vollständigkeit dargestellt, unser Mitleid in hohem Grade in pba_492.035 Anspruch nehmen wird. Die Lessingsche Erklärung der Furcht paßt auf pba_492.036 jeden dieser Fälle, und der Sprachgebrauch ist auch in seinem vollen pba_492.037 Rechte, sie "furchtbar" zu nennen; alle diese Ereignisse sind danach pba_492.038 angethan, unsere Furcht zu erregen, sobald wir uns vorstellen,
1pba_492.039 A. a. O. S. 257.
pba_492.001 der weniger grausame; nur die seltsame Verbindung von jäher Hitze und pba_492.002 moralischer Skrupulosität, die Lessing eigens für diesen Zweck komponiert pba_492.003 hat, konnte diese herzzerreißendste aber auch künstlichste Lösung annehmbar pba_492.004 machen.
pba_492.005 „Die Zeit in der Tragödie ist furchtbar, wie das Schicksal pba_492.006 selbst,“ sagt Kuno Fischer,1 „und ich kenne kein Trauerspiel, worin mir pba_492.007 diese Furchtbarkeit so eingeleuchtet hätte, wie hier, keines, worin jede pba_492.008 Handlung und jede Unterlassung so wie hier an ihren Zeitpunkt gekettet pba_492.009 wäre. Dies gilt auch von dem Moment, worin Emilia den Entschluß pba_492.010 zu sterben faßt; auch von dem Augenblick, worin Odoardo sie tötet. pba_492.011 Dadurch wird die Notwendigkeit der Handlungen nicht abgemindert, pba_492.012 sondern in Wahrheit erst vollendet.“ Darin liegt ein sehr schwerer pba_492.013 Jrrtum. Eine jede unglückliche Übereilung wird durch den Moment, an pba_492.014 den sie gekettet ist, psychologisch erklärlich; sie wird sicherlich, je mehr sie pba_492.015 das ist, um so beklagenswerter sein, aber in demselben Maße, als das pba_492.016 Mitleid durch die Erwägung wächst, daß nur der Moment, und zwar pba_492.017 nur für einen ganz eigenartigen Charakter, den unglücklichen Entschluß pba_492.018 verschuldete, wird naturgemäß die Furcht, d. h. die Vorstellung, daß das pba_492.019 durch diesen Entschluß bedingte Schicksal als ein allgemein vorauszusetzendes, pba_492.020 unvermeidliches zu gelten habe, abgeschwächt werden: eine pba_492.021 solche That wird, je heftiger sie uus rührt, um so pba_492.022 weniger furchtbar sein.
pba_492.023 Äußerungen wie die eben citierte Kuno Fischers bestätigen nur die pba_492.024 Thatsache, daß auf diesem Gebiete eine schwer zu lösende Verwirrung pba_492.025 herrscht, eine Verwirrung, die außer durch Lessings und Schillers irrtümliche pba_492.026 Theorie zum großen Teil durch den nach dem Sprachgebrauch pba_492.027 mit dem Wort „furchtbar“ verbundenen Sinn verschuldet sein mag. pba_492.028 Wir sprechen von einem „furchtbaren Unglück“, wenn jemand bei pba_492.029 der Ersteigung des Matterhorns im Absturz zerschmettert wird, wenn pba_492.030 auf offener See durch einen Schiffsbrand die Bemannung den Tod findet, pba_492.031 oder wenn ein überführter Fälscher seine ganze Familie und sich selbst pba_492.032 ums Leben bringt: und doch kann in keinem dieser Fälle von „tragischer pba_492.033 Furcht“ die Rede sein, während ein jeder derselben, in entsprechender pba_492.034 Vollständigkeit dargestellt, unser Mitleid in hohem Grade in pba_492.035 Anspruch nehmen wird. Die Lessingsche Erklärung der Furcht paßt auf pba_492.036 jeden dieser Fälle, und der Sprachgebrauch ist auch in seinem vollen pba_492.037 Rechte, sie „furchtbar“ zu nennen; alle diese Ereignisse sind danach pba_492.038 angethan, unsere Furcht zu erregen, sobald wir uns vorstellen,
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der weniger grausame; nur die seltsame Verbindung von jäher Hitze und pba_492.002
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„Die Zeit in der Tragödie ist furchtbar, wie das Schicksal pba_492.006
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A. a. O. S. 257.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/510>, abgerufen am 22.11.2024.
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