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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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zugung des "bürgerlichen Trauerspiels" als eine absolute Förderung pba_498.002
der tragischen Kunst anzusehen, während sie umgekehrt dem tragischen pba_498.003
Dichter seine Aufgabe in hohem Grade erschwert.

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Wenn nun der große Lehrmeister in diesen Dingen, wenn Lessing pba_498.005
gerade dieser Richtung durch den Jrrtum seiner Theorie die stärkste pba_498.006
Unterstützung lieh, so schien es geboten, alle Kraft der Waffen gegen pba_498.007
denselben ins Feld zu führen.

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Die Konsequenz jener ganzen Erörterung ist diese: wenn es richtig pba_498.009
ist, daß es eine sehr große Zahl von Handlungen, wirklichen oder nachgeahmten, pba_498.010
geben kann, die unser Mitleid anregen, ohne die in uns vorhandene pba_498.011
Furchtdisposition in Bewegung zu setzen, oder doch dieses nur pba_498.012
bei einer beschränkten Anzahl besonders beschaffener oder situierter Menschen pba_498.013
bewirkend, so werden doch auch Handlungen denkbar sein, wirkliche pba_498.014
oder nachgeahmte, welche, indem sie bei allen nicht extrem Gesinnten, pba_498.015
d. h. Leichtsinnigen oder Verzweifelten, Mitleid erregen, zugleich die pba_498.016
Bedingungen in sich vereinigen, bei diesen allen die vorhandene Furchtdisposition pba_498.017
in eine dem erregten Mitleid gleiche oder ähnliche Bewegung pba_498.018
zu setzen. Solche Handlungen hielt Aristoteles für die Nachahmung in pba_498.019
der Tragödie geeignet; er mußte daher, um sie zu charakterisieren, sich pba_498.020
schlechterdings beider Bezeichnungen bedienen.

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Daraus ergibt sich dann weiter, daß, trotz Lessing und allen anderen, pba_498.022
an allen den Stellen, wo in der aristotelischen Poetik "Furcht" pba_498.023
und "Mitleid" durch die disjunktiven Partikel "weder -- noch" und pba_498.024
"entweder -- oder" verbunden sind, diesen Partikeln allerdings ihre pba_498.025
eigentliche disjunktive Kraft beiwohnt. Die besten tragischen Handlungen pba_498.026
sind diejenigen, die durch ihren bloßen Verlauf schon beide Affekte gleich pba_498.027
stark erwecken; es gibt aber tragische Handlungen, und zwar sehr geeignete, pba_498.028
welche zunächst den einen von beiden Affekten als den primären pba_498.029
in besonders hohem Grade zu erregen geeignet sind. Tragisch brauchbar pba_498.030
sind solche Stoffe aber nur in dem Falle, daß sie wenigstens die Disposition pba_498.031
für den verwandten Affekt, als den sekundären, herzustellen vermögen: pba_498.032
die Sache des Dichters wird es sein, durch Verstärkung der dahin pba_498.033
zielenden Umstände, durch die Anwendung aller dazu wirksamen pba_498.034
Mittel diese Disposition nun auch wirklich in Thätigkeit zu setzen. Es pba_498.035
bedarf nur eines abermaligen Hinweises auf den antiken Chor, um an pba_498.036
zahlreiche Beispiele zu erinnern, in denen dieses so überaus wichtige pba_498.037
Jnstitut der alten Tragödie sowohl in Bezug auf das Mitleid als pba_498.038
namentlich in Bezug auf die Furcht jene Aufgabe erfüllt; denn bei der pba_498.039
Mehrzahl der tragischen Stoffe ist es das Mitleid, das als der primäre pba_498.040
Affekt überwiegt. Wenn also Aristoteles von den Stoffen spricht, die

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zugung des „bürgerlichen Trauerspiels“ als eine absolute Förderung pba_498.002
der tragischen Kunst anzusehen, während sie umgekehrt dem tragischen pba_498.003
Dichter seine Aufgabe in hohem Grade erschwert.

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Wenn nun der große Lehrmeister in diesen Dingen, wenn Lessing pba_498.005
gerade dieser Richtung durch den Jrrtum seiner Theorie die stärkste pba_498.006
Unterstützung lieh, so schien es geboten, alle Kraft der Waffen gegen pba_498.007
denselben ins Feld zu führen.

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Die Konsequenz jener ganzen Erörterung ist diese: wenn es richtig pba_498.009
ist, daß es eine sehr große Zahl von Handlungen, wirklichen oder nachgeahmten, pba_498.010
geben kann, die unser Mitleid anregen, ohne die in uns vorhandene pba_498.011
Furchtdisposition in Bewegung zu setzen, oder doch dieses nur pba_498.012
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bewirkend, so werden doch auch Handlungen denkbar sein, wirkliche pba_498.014
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in eine dem erregten Mitleid gleiche oder ähnliche Bewegung pba_498.018
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der Tragödie geeignet; er mußte daher, um sie zu charakterisieren, sich pba_498.020
schlechterdings beider Bezeichnungen bedienen.

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Daraus ergibt sich dann weiter, daß, trotz Lessing und allen anderen, pba_498.022
an allen den Stellen, wo in der aristotelischen Poetik „Furcht“ pba_498.023
und „Mitleid“ durch die disjunktiven Partikel „weder — noch“ und pba_498.024
„entweder — oder“ verbunden sind, diesen Partikeln allerdings ihre pba_498.025
eigentliche disjunktive Kraft beiwohnt. Die besten tragischen Handlungen pba_498.026
sind diejenigen, die durch ihren bloßen Verlauf schon beide Affekte gleich pba_498.027
stark erwecken; es gibt aber tragische Handlungen, und zwar sehr geeignete, pba_498.028
welche zunächst den einen von beiden Affekten als den primären pba_498.029
in besonders hohem Grade zu erregen geeignet sind. Tragisch brauchbar pba_498.030
sind solche Stoffe aber nur in dem Falle, daß sie wenigstens die Disposition pba_498.031
für den verwandten Affekt, als den sekundären, herzustellen vermögen: pba_498.032
die Sache des Dichters wird es sein, durch Verstärkung der dahin pba_498.033
zielenden Umstände, durch die Anwendung aller dazu wirksamen pba_498.034
Mittel diese Disposition nun auch wirklich in Thätigkeit zu setzen. Es pba_498.035
bedarf nur eines abermaligen Hinweises auf den antiken Chor, um an pba_498.036
zahlreiche Beispiele zu erinnern, in denen dieses so überaus wichtige pba_498.037
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namentlich in Bezug auf die Furcht jene Aufgabe erfüllt; denn bei der pba_498.039
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/516>, abgerufen am 22.11.2024.