pba_035.001 Beziehung zu treten. Die wahrgenommenen Eigenschaften, Bewegungen pba_035.002 und Veränderungen übersetzen wir uns mit mehr oder weniger Kraft pba_035.003 der angeborenen Phantasie in Lebensäußerungen einer der unseren ähnlich pba_035.004 gearteten Seele, und so werden auch bei uns die entsprechenden pba_035.005 Seelen bewegungen erweckt. Die Sprache selbst liefert den Beweis, pba_035.006 die gar keine anderen Mittel besitzt, Natureindrücke darzustellen, als welche pba_035.007 sie dieser Fiktion entnimmt; die freundliche Landschaft, das friedliche pba_035.008 Thal, das erhabene Gebirge, der heitere oder drohende Himmel, die pba_035.009 majestätische See und der wütende Sturm, die stolze Eiche und die altehrwürdige pba_035.010 Linde bis hinab zu dem bescheiden versteckten Veilchen, sie pba_035.011 alle und noch unzählige andere Wendungen geben Zeugnis, daß auch die pba_035.012 Sprache des gewöhnlichen Lebens, sobald sie nur einigermaßen durch pba_035.013 den Ausdruck der Empfindung sich färbt, den Satz bestätigt: nur pba_035.014 seelisches Leben erweckt auch unsere Seele zu Leben und Be- pba_035.015 wegung; die bloßen Naturobjekte vermögen das an sich zunächst pba_035.016 noch nicht! Sie werden dazu erst dadurch befähigt, pba_035.017 daß wir ihnen ein Analogon jener seelischen Energien beilegen pba_035.018 oder doch die Vorstellung davon unmittelbar mit ihnen pba_035.019 verknüpfen.
pba_035.020 Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen pba_035.021 Keimen erfüllt ist, wie muß es erst die Sache des Dichters sein, diese pba_035.022 Keime zu voller Entwickelung zu bringen! Das Materielle an den pba_035.023 Naturdingen wird er überall nur insoweit darzustellen haben, als es pba_035.024 dazu dient, das zu vergegenwärtigen oder schließen zu lassen, was allein pba_035.025 die Seelen bewegt und daher der eine Gegenstand aller Kunst ist: Leben pba_035.026 und Wirksamkeit.
pba_035.027 Von diesem Gesichtspunkte aus zeigt sich auch am deutlichsten der pba_035.028 Grund, warum die Vorstellungen der griechischen Mythologie so unwiderstehlich pba_035.029 in unsre Poesie und in unsre gesamte Kunst eingedrungen sind. pba_035.030 Die Antwort, weil sie eine Fülle schöner Gebilde enthält, ist auch hier pba_035.031 nicht ausreichend; die unvergleichliche und unvergängliche poetische Kraft pba_035.032 dieser Schöpfungen beruht vielmehr darin, daß das geborene Künstlervolk pba_035.033 der Griechen die Fähigkeit, welche allen Völkern in ihrem dichtenden pba_035.034 Kindesalter eigen ist, zur höchsten Vollendung brachte: in allem, was ihre pba_035.035 Seele bedeutend erregte, die wirkende Energie aufzufassen, diese zu objektivieren pba_035.036 und ihr eine psychisch und physisch entsprechend ausgebildete, pba_035.037 ganz selbständige Jndividualität zu verleihen, mit der sie sich fortan pba_035.038 auseinanderzusetzen hatten. So verfuhren sie nicht allein den Naturdingen pba_035.039 gegenüber, den Elementen und ihrer Kraft, sondern auch Zeit pba_035.040 und Schicksal mit ihren wechselnden Verhängnissen erschienen ihnen in
pba_035.001 Beziehung zu treten. Die wahrgenommenen Eigenschaften, Bewegungen pba_035.002 und Veränderungen übersetzen wir uns mit mehr oder weniger Kraft pba_035.003 der angeborenen Phantasie in Lebensäußerungen einer der unseren ähnlich pba_035.004 gearteten Seele, und so werden auch bei uns die entsprechenden pba_035.005 Seelen bewegungen erweckt. Die Sprache selbst liefert den Beweis, pba_035.006 die gar keine anderen Mittel besitzt, Natureindrücke darzustellen, als welche pba_035.007 sie dieser Fiktion entnimmt; die freundliche Landschaft, das friedliche pba_035.008 Thal, das erhabene Gebirge, der heitere oder drohende Himmel, die pba_035.009 majestätische See und der wütende Sturm, die stolze Eiche und die altehrwürdige pba_035.010 Linde bis hinab zu dem bescheiden versteckten Veilchen, sie pba_035.011 alle und noch unzählige andere Wendungen geben Zeugnis, daß auch die pba_035.012 Sprache des gewöhnlichen Lebens, sobald sie nur einigermaßen durch pba_035.013 den Ausdruck der Empfindung sich färbt, den Satz bestätigt: nur pba_035.014 seelisches Leben erweckt auch unsere Seele zu Leben und Be- pba_035.015 wegung; die bloßen Naturobjekte vermögen das an sich zunächst pba_035.016 noch nicht! Sie werden dazu erst dadurch befähigt, pba_035.017 daß wir ihnen ein Analogon jener seelischen Energien beilegen pba_035.018 oder doch die Vorstellung davon unmittelbar mit ihnen pba_035.019 verknüpfen.
pba_035.020 Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen pba_035.021 Keimen erfüllt ist, wie muß es erst die Sache des Dichters sein, diese pba_035.022 Keime zu voller Entwickelung zu bringen! Das Materielle an den pba_035.023 Naturdingen wird er überall nur insoweit darzustellen haben, als es pba_035.024 dazu dient, das zu vergegenwärtigen oder schließen zu lassen, was allein pba_035.025 die Seelen bewegt und daher der eine Gegenstand aller Kunst ist: Leben pba_035.026 und Wirksamkeit.
pba_035.027 Von diesem Gesichtspunkte aus zeigt sich auch am deutlichsten der pba_035.028 Grund, warum die Vorstellungen der griechischen Mythologie so unwiderstehlich pba_035.029 in unsre Poesie und in unsre gesamte Kunst eingedrungen sind. pba_035.030 Die Antwort, weil sie eine Fülle schöner Gebilde enthält, ist auch hier pba_035.031 nicht ausreichend; die unvergleichliche und unvergängliche poetische Kraft pba_035.032 dieser Schöpfungen beruht vielmehr darin, daß das geborene Künstlervolk pba_035.033 der Griechen die Fähigkeit, welche allen Völkern in ihrem dichtenden pba_035.034 Kindesalter eigen ist, zur höchsten Vollendung brachte: in allem, was ihre pba_035.035 Seele bedeutend erregte, die wirkende Energie aufzufassen, diese zu objektivieren pba_035.036 und ihr eine psychisch und physisch entsprechend ausgebildete, pba_035.037 ganz selbständige Jndividualität zu verleihen, mit der sie sich fortan pba_035.038 auseinanderzusetzen hatten. So verfuhren sie nicht allein den Naturdingen pba_035.039 gegenüber, den Elementen und ihrer Kraft, sondern auch Zeit pba_035.040 und Schicksal mit ihren wechselnden Verhängnissen erschienen ihnen in
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Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen pba_035.021
Keimen erfüllt ist, wie muß es erst die Sache des Dichters sein, diese pba_035.022
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/53>, abgerufen am 21.11.2024.
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