pba_517.001 Gesetzgebung der Kunst muß es zu den falschesten Schlüssen führen. pba_517.002 Was Aristoteles von der Kunst verlangt, ist eben die Katharsis solcher pba_517.003 Pathemata: die Nachahmung der Kunst soll freilich die Empfindungskräfte pba_517.004 der Menschen in Thätigkeit versetzen, nach der sie so sehr verlangen, pba_517.005 aber sie soll dieser Thätigkeit die reinsten Objekte darbieten, pba_517.006 d. h. sie zu der in ihrer Art vollendetsten gestalten. Das verlangt auch pba_517.007 Schiller im Eingange der Abhandlung "Über die tragische Kunst", pba_517.008 indem er sich die im nächsten Kapitel des Dubos gegebenen Beispiele pba_517.009 fast wörtlich aneignet; aber seine Beweisführung schlägt einen Umweg pba_517.010 ein, der in das moralische Gebiet hineinleitet und bei dem es ohne sehr pba_517.011 starke Verirrungen nicht abgeht. Der Hauptgrund liegt in den falschen pba_517.012 Prämissen, die er sich aus dem Dubos zu eigen gemacht hat.
pba_517.013 Mit jeder Art von Bethätigung, besonders der Empfindungen und pba_517.014 Leidenschaften, ist naturgemäß Freude verbunden; aber Aristoteles unterscheidet pba_517.015 die falsche Art sich zu freuen von der richtigen (dem orthos pba_517.016 khairein). Er kennt auch eine Art sich am mittelmäßigen zu freuen, eine pba_517.017 unschädliche Freude, die er z. B. in musikalischen Aufführungen "zur pba_517.018 Erholung" für die Leute niederer Bildung, die "Banausen", gestattet pba_517.019 wissen will. Dies ist die khara ablabes,1 welche Bernays in stärkstem pba_517.020 Mißverstand für das Ziel der hohen Tragödie angesehen hat! Dubos pba_517.021 aber betrachtet die passions und agitations um ihrer selbst willenpba_517.022 als den Zweck der künstlerischen Nachahmung, die heftigsten am meisten, pba_517.023 und weil die schmerzlichen die heftigsten sind, also diese vor allen. Es pba_517.024 erhellt ohne weitere Ausführung auf den ersten Blick, welch einer ungeheuren pba_517.025 Macht diese Gedanken durch den Umstand sicher sind, daß sie pba_517.026 mit der Art, wie im gemeinen Leben die Masse der Menschen thatsächlich pba_517.027 der Kunst nachtrachtet, sich völlig decken. Deshalb hat diese Kunstauffassung, pba_517.028 der unsere große klassische Litteratur den Krieg auf Leben und pba_517.029 Tod erklärte, immerfort die Massen für sich, und sie droht heute unter pba_517.030 der Fahne des angeblichen Realismus und des Naturalismus wieder pba_517.031 das Feld für sich zu gewinnen.
pba_517.032 Nach Dubos kommt es also auf weiter nichts an, als daß den pba_517.033 heftigen Emotionen das Schmerzliche, das sie im wirklichen Leben für pba_517.034 den, der sie erfährt, mit sich führen, genommen werde: das geschieht, pba_517.035 indem sie durch Nachahmung unwirklicher Vorgänge "künstlich" erzeugt pba_517.036 werden. L'art, ne pourrait-il pas produire des objets qui excitassent pba_517.037 en nous des passions artificielles capables de nous occuper pba_517.038 dans le moment que nous les sentons, et incapables de nous causer
1pba_517.039 S. Arist. 1342a 16 ff.
pba_517.001 Gesetzgebung der Kunst muß es zu den falschesten Schlüssen führen. pba_517.002 Was Aristoteles von der Kunst verlangt, ist eben die Katharsis solcher pba_517.003 Pathemata: die Nachahmung der Kunst soll freilich die Empfindungskräfte pba_517.004 der Menschen in Thätigkeit versetzen, nach der sie so sehr verlangen, pba_517.005 aber sie soll dieser Thätigkeit die reinsten Objekte darbieten, pba_517.006 d. h. sie zu der in ihrer Art vollendetsten gestalten. Das verlangt auch pba_517.007 Schiller im Eingange der Abhandlung „Über die tragische Kunst“, pba_517.008 indem er sich die im nächsten Kapitel des Dubos gegebenen Beispiele pba_517.009 fast wörtlich aneignet; aber seine Beweisführung schlägt einen Umweg pba_517.010 ein, der in das moralische Gebiet hineinleitet und bei dem es ohne sehr pba_517.011 starke Verirrungen nicht abgeht. Der Hauptgrund liegt in den falschen pba_517.012 Prämissen, die er sich aus dem Dubos zu eigen gemacht hat.
pba_517.013 Mit jeder Art von Bethätigung, besonders der Empfindungen und pba_517.014 Leidenschaften, ist naturgemäß Freude verbunden; aber Aristoteles unterscheidet pba_517.015 die falsche Art sich zu freuen von der richtigen (dem ὀρθῶς pba_517.016 χαίρειν). Er kennt auch eine Art sich am mittelmäßigen zu freuen, eine pba_517.017 unschädliche Freude, die er z. B. in musikalischen Aufführungen „zur pba_517.018 Erholung“ für die Leute niederer Bildung, die „Banausen“, gestattet pba_517.019 wissen will. Dies ist die χαρὰ ἀβλαβής,1 welche Bernays in stärkstem pba_517.020 Mißverstand für das Ziel der hohen Tragödie angesehen hat! Dubos pba_517.021 aber betrachtet die passions und agitations um ihrer selbst willenpba_517.022 als den Zweck der künstlerischen Nachahmung, die heftigsten am meisten, pba_517.023 und weil die schmerzlichen die heftigsten sind, also diese vor allen. Es pba_517.024 erhellt ohne weitere Ausführung auf den ersten Blick, welch einer ungeheuren pba_517.025 Macht diese Gedanken durch den Umstand sicher sind, daß sie pba_517.026 mit der Art, wie im gemeinen Leben die Masse der Menschen thatsächlich pba_517.027 der Kunst nachtrachtet, sich völlig decken. Deshalb hat diese Kunstauffassung, pba_517.028 der unsere große klassische Litteratur den Krieg auf Leben und pba_517.029 Tod erklärte, immerfort die Massen für sich, und sie droht heute unter pba_517.030 der Fahne des angeblichen Realismus und des Naturalismus wieder pba_517.031 das Feld für sich zu gewinnen.
pba_517.032 Nach Dubos kommt es also auf weiter nichts an, als daß den pba_517.033 heftigen Emotionen das Schmerzliche, das sie im wirklichen Leben für pba_517.034 den, der sie erfährt, mit sich führen, genommen werde: das geschieht, pba_517.035 indem sie durch Nachahmung unwirklicher Vorgänge „künstlich“ erzeugt pba_517.036 werden. L'art, ne pourrait-il pas produire des objets qui excitassent pba_517.037 en nous des passions artificielles capables de nous occuper pba_517.038 dans le moment que nous les sentons, et incapables de nous causer
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Nach Dubos kommt es also auf weiter nichts an, als daß den pba_517.033
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/535>, abgerufen am 22.11.2024.
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