pba_557.001 der die Furcht ganz im Mitleid verschwinden ließ, handgreiflicher als pba_557.002 hier. Eine einigermaßen deutliche Vorstellung von der Natur dieses pba_557.003 Affektes hätte Schiller mit Notwendigkeit aus dem Gewebe, in das er pba_557.004 sich mehr und mehr verstrickt, befreien müssen. Sie hätte ihm den pba_557.005 primitiven Charakter der tragischen Affekte entdecken müssen, statt daß pba_557.006 er sie als mitgeteilte behandelt; zugleich damit hätten sie sich ihm pba_557.007 als spontane, reine Empfindungen darstellen müssen, in Entstehung pba_557.008 und Verlauf ganz unabhängig von moralischer Erkenntnis, vielmehr pba_557.009 geeignet diese erst anzuregen, auf sie hinzuführen! Jst doch pba_557.010 die Furcht einer der mächtigsten Faktoren des religiösen Empfindens!pba_557.011 Aber gleichviel, ob mit der Heiligkeit des religiösen Gebotes pba_557.012 umkleidet und durch sie gefordert, oder durch die künstlerische Nachahmung pba_557.013 des Schicksalslaufes unmittelbar erzeugt: immer ist diese pba_557.014 "Furcht" die Vorläuferin und Vorbedingung der Philosophie, "der pba_557.015 Weisheit Anfang", niemals das erst durch moralische Kultur ermöglichte pba_557.016 Ergebnis. Schiller, da er in seiner Rechnung unbewußt auf die pba_557.017 Unentbehrlichkeit dieses Koefficienten stößt, ersetzt ihn durch die Forderung pba_557.018 einer teleologischen Erkenntnis des Weltenplans!
pba_557.019 Die merkwürdige Stelle muß hier im vollen Wortlaut wiedergegeben pba_557.020 werden: "Wie viel auch schon dadurch gewonnen wird, daß pba_557.021 unser Unwille über jene Zweckwidrigkeit kein moralisches Wesen betrifft, pba_557.022 sondern an den unschädlichsten Ort, auf die Notwendigkeit abgeleitet pba_557.023 wird, so ist eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal immer pba_557.024 demütigend und kränkend für freie, sich selbst bestimmende Wesen. Dies pba_557.025 ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der griechischen pba_557.026 Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen pba_557.027 diesen Stücken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wirdpba_557.028 und für unsere Vernunft fordernde Vernunft immer ein unaufgelöster pba_557.029 Knoten zurückbleibt. Aber auf der höchsten und letzten Stufe, pba_557.030 welche der moralisch gebildete Mensch erklimmt, und zu welcher die pba_557.031 rührende Kunst sich erheben kann, löst sich auch dieser, und jeder Schatten pba_557.032 von Unlust verschwindet mit ihm. Dies geschieht, wenn selbst die Unzufriedenheit pba_557.033 mit dem Schicksal hinwegfällt -- (wie nahe kommt Schiller pba_557.034 hier der Forderung des gereinigten, berechtigten Affektes! der aber nichtsdestoweniger pba_557.035 doch Affekt bleibt: lebendige, mit Wärme die Seele durchströmende pba_557.036 Thätigkeit des Empfindens! Elementarkraft, aber zur pba_557.037 Wirkung an rechter Stelle in das rechte Bett gelenkt!) -- und sich in pba_557.038 die Ahnung oder lieber in deutliches Bewußtsein einer teleologischen pba_557.039 Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, pba_557.040 eines gütigen Willens verliert -- (der Jrrtum verschleiert sich für
pba_557.001 der die Furcht ganz im Mitleid verschwinden ließ, handgreiflicher als pba_557.002 hier. Eine einigermaßen deutliche Vorstellung von der Natur dieses pba_557.003 Affektes hätte Schiller mit Notwendigkeit aus dem Gewebe, in das er pba_557.004 sich mehr und mehr verstrickt, befreien müssen. Sie hätte ihm den pba_557.005 primitiven Charakter der tragischen Affekte entdecken müssen, statt daß pba_557.006 er sie als mitgeteilte behandelt; zugleich damit hätten sie sich ihm pba_557.007 als spontane, reine Empfindungen darstellen müssen, in Entstehung pba_557.008 und Verlauf ganz unabhängig von moralischer Erkenntnis, vielmehr pba_557.009 geeignet diese erst anzuregen, auf sie hinzuführen! Jst doch pba_557.010 die Furcht einer der mächtigsten Faktoren des religiösen Empfindens!pba_557.011 Aber gleichviel, ob mit der Heiligkeit des religiösen Gebotes pba_557.012 umkleidet und durch sie gefordert, oder durch die künstlerische Nachahmung pba_557.013 des Schicksalslaufes unmittelbar erzeugt: immer ist diese pba_557.014 „Furcht“ die Vorläuferin und Vorbedingung der Philosophie, „der pba_557.015 Weisheit Anfang“, niemals das erst durch moralische Kultur ermöglichte pba_557.016 Ergebnis. Schiller, da er in seiner Rechnung unbewußt auf die pba_557.017 Unentbehrlichkeit dieses Koefficienten stößt, ersetzt ihn durch die Forderung pba_557.018 einer teleologischen Erkenntnis des Weltenplans!
pba_557.019 Die merkwürdige Stelle muß hier im vollen Wortlaut wiedergegeben pba_557.020 werden: „Wie viel auch schon dadurch gewonnen wird, daß pba_557.021 unser Unwille über jene Zweckwidrigkeit kein moralisches Wesen betrifft, pba_557.022 sondern an den unschädlichsten Ort, auf die Notwendigkeit abgeleitet pba_557.023 wird, so ist eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal immer pba_557.024 demütigend und kränkend für freie, sich selbst bestimmende Wesen. Dies pba_557.025 ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der griechischen pba_557.026 Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen pba_557.027 diesen Stücken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wirdpba_557.028 und für unsere Vernunft fordernde Vernunft immer ein unaufgelöster pba_557.029 Knoten zurückbleibt. Aber auf der höchsten und letzten Stufe, pba_557.030 welche der moralisch gebildete Mensch erklimmt, und zu welcher die pba_557.031 rührende Kunst sich erheben kann, löst sich auch dieser, und jeder Schatten pba_557.032 von Unlust verschwindet mit ihm. Dies geschieht, wenn selbst die Unzufriedenheit pba_557.033 mit dem Schicksal hinwegfällt — (wie nahe kommt Schiller pba_557.034 hier der Forderung des gereinigten, berechtigten Affektes! der aber nichtsdestoweniger pba_557.035 doch Affekt bleibt: lebendige, mit Wärme die Seele durchströmende pba_557.036 Thätigkeit des Empfindens! Elementarkraft, aber zur pba_557.037 Wirkung an rechter Stelle in das rechte Bett gelenkt!) — und sich in pba_557.038 die Ahnung oder lieber in deutliches Bewußtsein einer teleologischen pba_557.039 Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, pba_557.040 eines gütigen Willens verliert — (der Jrrtum verschleiert sich für
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/575>, abgerufen am 31.10.2024.
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