pba_712.001 stellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen pba_712.002 verbunden."1
pba_712.003 Bei diesem Kapitel ("Von den Triebfedern der reinen praktischen pba_712.004 Vernunft") hätte eine ausführliche Bekämpfung der Lehre Kants pba_712.005 von den "Empfindungen" einzusetzen; sie fände fast in jedem Satze pba_712.006 reichen Stoff. Kant geht von den Sätzen aus: "alle Neigungen zusammen pba_712.007 machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder pba_712.008 die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen pba_712.009 sich selbst (philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst pba_712.010 (arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel."2pba_712.011 Aber wer sähe nicht, daß Kant diese "Gefühle" an sich von vornherein pba_712.012 viel zu niedrig schätzt, da er sie nur von der Seite ihrer Übertreibungpba_712.013 betrachtet und ganz außer acht läßt, daß sie auch in einer pba_712.014 Modifikation nach Grad, Begründung und Art und Weise der Bethätigung pba_712.015 auftreten können, wonach sie nicht allein berechtigt sind, pba_712.016 sondern unbedingt gefordert werden. Gibt es nicht ein berechtigtespba_712.017 "Wohlgefallen" des Menschen an sich selbst? und istpba_712.018 nicht ein solches berechtigtes Wohlgefallen an sich selbst zugleich Voraussetzung pba_712.019 und Resultat gesunder sittlicher Entwickelung, als die begleitende pba_712.020 Empfindung unauflöslich und notwendig mit kräftigem, rechtem Handeln pba_712.021 verbunden? Und ist es mit der "Selbstliebe" etwa anders beschaffen? pba_712.022 Woher nimmt Kant das Recht von diesen "Gefühlen" nur in den Ausdrücken pba_712.023 des Tadels, ja der Verachtung zu sprechen, als wären sie pba_712.024 krankhaft und unter allen Umständen auszurotten? Obendrein sind die pba_712.025 Gefühle der "Selbstliebe" und des "Wohlgefallens an sich selbst" bei pba_712.026 ihm Kollektivbezeichnungen und umfassen im Grunde alle "subjektiven pba_712.027 Gefühle", also z. B. auch Hoffnung, Liebe, Vertrauen, Furcht und pba_712.028 Mitleid. Gewiß ist Kant im Recht, sie alle "von dem Beitritt zur pba_712.029 obersten Gesetzgebung auszuschließen"; aber es ist eine ganz falsche pba_712.030 Folgerung diesen Gefühlen an sich deshalb die Perfektibilität abzusprechen. pba_712.031 Niemand wird das Zutreffende der aristotelischen Beobachtung pba_712.032 verkennen, daß jede dieser Empfindungen denkbar sei und auch pba_712.033 wirklich angetroffen werde in mannigfachen Graden des Übermaßes pba_712.034 und der Unzulänglichkeit, drittens jedoch in einem mitten inne gelegenen pba_712.035 Grade, in welchem ihr das Prädikat der "Richtigkeit" zukommt, d. h. pba_712.036 sie nach der Stärke, den Gründen und der Art und Weise ihres pba_712.037 Auftretens so beschaffen ist, wie sie beschaffen sein soll. Niemand
1pba_712.038 S. VIII, S. 206.
2pba_712.039 S. VIII, S. 197.
pba_712.001 stellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen pba_712.002 verbunden.“1
pba_712.003 Bei diesem Kapitel („Von den Triebfedern der reinen praktischen pba_712.004 Vernunft“) hätte eine ausführliche Bekämpfung der Lehre Kants pba_712.005 von den „Empfindungen“ einzusetzen; sie fände fast in jedem Satze pba_712.006 reichen Stoff. Kant geht von den Sätzen aus: „alle Neigungen zusammen pba_712.007 machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder pba_712.008 die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen pba_712.009 sich selbst (philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst pba_712.010 (arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel.“2pba_712.011 Aber wer sähe nicht, daß Kant diese „Gefühle“ an sich von vornherein pba_712.012 viel zu niedrig schätzt, da er sie nur von der Seite ihrer Übertreibungpba_712.013 betrachtet und ganz außer acht läßt, daß sie auch in einer pba_712.014 Modifikation nach Grad, Begründung und Art und Weise der Bethätigung pba_712.015 auftreten können, wonach sie nicht allein berechtigt sind, pba_712.016 sondern unbedingt gefordert werden. Gibt es nicht ein berechtigtespba_712.017 „Wohlgefallen“ des Menschen an sich selbst? und istpba_712.018 nicht ein solches berechtigtes Wohlgefallen an sich selbst zugleich Voraussetzung pba_712.019 und Resultat gesunder sittlicher Entwickelung, als die begleitende pba_712.020 Empfindung unauflöslich und notwendig mit kräftigem, rechtem Handeln pba_712.021 verbunden? Und ist es mit der „Selbstliebe“ etwa anders beschaffen? pba_712.022 Woher nimmt Kant das Recht von diesen „Gefühlen“ nur in den Ausdrücken pba_712.023 des Tadels, ja der Verachtung zu sprechen, als wären sie pba_712.024 krankhaft und unter allen Umständen auszurotten? Obendrein sind die pba_712.025 Gefühle der „Selbstliebe“ und des „Wohlgefallens an sich selbst“ bei pba_712.026 ihm Kollektivbezeichnungen und umfassen im Grunde alle „subjektiven pba_712.027 Gefühle“, also z. B. auch Hoffnung, Liebe, Vertrauen, Furcht und pba_712.028 Mitleid. Gewiß ist Kant im Recht, sie alle „von dem Beitritt zur pba_712.029 obersten Gesetzgebung auszuschließen“; aber es ist eine ganz falsche pba_712.030 Folgerung diesen Gefühlen an sich deshalb die Perfektibilität abzusprechen. pba_712.031 Niemand wird das Zutreffende der aristotelischen Beobachtung pba_712.032 verkennen, daß jede dieser Empfindungen denkbar sei und auch pba_712.033 wirklich angetroffen werde in mannigfachen Graden des Übermaßes pba_712.034 und der Unzulänglichkeit, drittens jedoch in einem mitten inne gelegenen pba_712.035 Grade, in welchem ihr das Prädikat der „Richtigkeit“ zukommt, d. h. pba_712.036 sie nach der Stärke, den Gründen und der Art und Weise ihres pba_712.037 Auftretens so beschaffen ist, wie sie beschaffen sein soll. Niemand
1pba_712.038 S. VIII, S. 206.
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Aber wer sähe nicht, daß Kant diese „Gefühle“ an sich von vornherein pba_712.012
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/730>, abgerufen am 22.11.2024.
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