pba_071.001 Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf pba_071.002 ein ganz bestimmt begrenztes Gebiet gewiesen, wodurch sich ihre Gesetzgebung pba_071.003 wesentlich modifiziert.
pba_071.004 Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des pba_071.005 Ganzen überwiegen, die erzählte äußere Handlung nur das Mittel sein; pba_071.006 ihr Zweck, also der Gegenstand der Nachahmung, ein Ethos. Soweit pba_071.007 wäre also die Romanze der Ballade völlig gleichgeartet; nun aber der pba_071.008 spezifische Unterschied! Der Ballade gehört das ganze, unermeßlich weite pba_071.009 Gebiet der rein menschlichen Ethe -- die Anwendung des Plurals ist pba_071.010 hier geboten -- zu; verschiedenartig gefärbt erscheinen dieselben nur je pba_071.011 nach der charakteristischen Eigenart der Nationen. Alles aber, was pba_071.012 darüber hinaus als besondere Beschaffenheit der Zeitumstände und als pba_071.013 Singularität der Epoche die Handlung bedingt, das schließt die Ballade pba_071.014 entweder ganz aus oder sie weiß es so abzuklären und derart auf pba_071.015 seinen allgemein menschlichen Kern zurückzuführen, daß die unmittelbare pba_071.016 Verständlichkeit nicht darunter leidet. Daher hat die echte Ballade ungeachtet pba_071.017 ihrer nur andeutenden Erzählungsweise eine unbegrenzte pba_071.018 Wirkungskraft, welche sowohl die Schranken der Zeit als die pba_071.019 der Nation überspringt.
pba_071.020 Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist pba_071.021 die Romanze auf ein der Zeit und dem Schauplatze nach enge begrenztes pba_071.022 Gebiet eingeschränkt, auf die Nachahmung einer erst aus ganz pba_071.023 bestimmten Voraussetzungen erklärlichen und verständlichen Auffassungs- pba_071.024 und Gefühlsweise. Es ist die Gesinnung und die Art zu empfinden pba_071.025 und die daraus hervorgehende, völlig eigentümliche Sonderart des pba_071.026 Handelns, welche gegen das Ende des Mittelalters, vom elften bis zum pba_071.027 fünfzehnten Jahrhundert, vorzüglich aber im zwölften und dreizehnten pba_071.028 unter den romanischen Nationen entstanden war und auch den übrigen pba_071.029 abendländischen Völkern sich mitteilte, und zwar nicht sowohl die Gesamtheit pba_071.030 beherrschend als vornehmlich bei einem exklusiven Stande, der pba_071.031 ritterlichen Gesellschaft, darüber hinaus nur etwa durch ihre Ausstrahlungen pba_071.032 sich erstreckend; ferner doch auch so, daß sie bei weitem nicht pba_071.033 in dem Grade dem wirklichen Leben angehörte, als vielmehr recht pba_071.034 eigentlich ihren Ursprung und Sitz in einer sehr starken Erregung des pba_071.035 Phantasielebens hatte, welche gleichmäßig durch die kirchlichen, pba_071.036 politischen und socialen Zustände jener Zeit hervorgebracht und erhalten pba_071.037 wurde. Es war somit eine von Hause aus ihrem innersten Wesen nach pba_071.038 der dichterischen Stimmung verwandte Gefühlsweise, welche einem jeden pba_071.039 Gedanken, einer jeden Empfindung, jedem Entschließungsakte in jener pba_071.040 Epoche einen Stempel aufdrückte, der sie von der Denk-, Gefühls- und
pba_071.001 Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf pba_071.002 ein ganz bestimmt begrenztes Gebiet gewiesen, wodurch sich ihre Gesetzgebung pba_071.003 wesentlich modifiziert.
pba_071.004 Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des pba_071.005 Ganzen überwiegen, die erzählte äußere Handlung nur das Mittel sein; pba_071.006 ihr Zweck, also der Gegenstand der Nachahmung, ein Ethos. Soweit pba_071.007 wäre also die Romanze der Ballade völlig gleichgeartet; nun aber der pba_071.008 spezifische Unterschied! Der Ballade gehört das ganze, unermeßlich weite pba_071.009 Gebiet der rein menschlichen Ethe — die Anwendung des Plurals ist pba_071.010 hier geboten — zu; verschiedenartig gefärbt erscheinen dieselben nur je pba_071.011 nach der charakteristischen Eigenart der Nationen. Alles aber, was pba_071.012 darüber hinaus als besondere Beschaffenheit der Zeitumstände und als pba_071.013 Singularität der Epoche die Handlung bedingt, das schließt die Ballade pba_071.014 entweder ganz aus oder sie weiß es so abzuklären und derart auf pba_071.015 seinen allgemein menschlichen Kern zurückzuführen, daß die unmittelbare pba_071.016 Verständlichkeit nicht darunter leidet. Daher hat die echte Ballade ungeachtet pba_071.017 ihrer nur andeutenden Erzählungsweise eine unbegrenzte pba_071.018 Wirkungskraft, welche sowohl die Schranken der Zeit als die pba_071.019 der Nation überspringt.
pba_071.020 Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist pba_071.021 die Romanze auf ein der Zeit und dem Schauplatze nach enge begrenztes pba_071.022 Gebiet eingeschränkt, auf die Nachahmung einer erst aus ganz pba_071.023 bestimmten Voraussetzungen erklärlichen und verständlichen Auffassungs- pba_071.024 und Gefühlsweise. Es ist die Gesinnung und die Art zu empfinden pba_071.025 und die daraus hervorgehende, völlig eigentümliche Sonderart des pba_071.026 Handelns, welche gegen das Ende des Mittelalters, vom elften bis zum pba_071.027 fünfzehnten Jahrhundert, vorzüglich aber im zwölften und dreizehnten pba_071.028 unter den romanischen Nationen entstanden war und auch den übrigen pba_071.029 abendländischen Völkern sich mitteilte, und zwar nicht sowohl die Gesamtheit pba_071.030 beherrschend als vornehmlich bei einem exklusiven Stande, der pba_071.031 ritterlichen Gesellschaft, darüber hinaus nur etwa durch ihre Ausstrahlungen pba_071.032 sich erstreckend; ferner doch auch so, daß sie bei weitem nicht pba_071.033 in dem Grade dem wirklichen Leben angehörte, als vielmehr recht pba_071.034 eigentlich ihren Ursprung und Sitz in einer sehr starken Erregung des pba_071.035 Phantasielebens hatte, welche gleichmäßig durch die kirchlichen, pba_071.036 politischen und socialen Zustände jener Zeit hervorgebracht und erhalten pba_071.037 wurde. Es war somit eine von Hause aus ihrem innersten Wesen nach pba_071.038 der dichterischen Stimmung verwandte Gefühlsweise, welche einem jeden pba_071.039 Gedanken, einer jeden Empfindung, jedem Entschließungsakte in jener pba_071.040 Epoche einen Stempel aufdrückte, der sie von der Denk-, Gefühls- und
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Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf pba_071.002
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Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des pba_071.005
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Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist pba_071.021
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/89>, abgerufen am 24.11.2024.
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