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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf pba_071.002
ein ganz bestimmt begrenztes Gebiet gewiesen, wodurch sich ihre Gesetzgebung pba_071.003
wesentlich modifiziert.

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Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des pba_071.005
Ganzen überwiegen, die erzählte äußere Handlung nur das Mittel sein; pba_071.006
ihr Zweck, also der Gegenstand der Nachahmung, ein Ethos. Soweit pba_071.007
wäre also die Romanze der Ballade völlig gleichgeartet; nun aber der pba_071.008
spezifische Unterschied! Der Ballade gehört das ganze, unermeßlich weite pba_071.009
Gebiet der rein menschlichen Ethe -- die Anwendung des Plurals ist pba_071.010
hier geboten -- zu; verschiedenartig gefärbt erscheinen dieselben nur je pba_071.011
nach der charakteristischen Eigenart der Nationen. Alles aber, was pba_071.012
darüber hinaus als besondere Beschaffenheit der Zeitumstände und als pba_071.013
Singularität der Epoche die Handlung bedingt, das schließt die Ballade pba_071.014
entweder ganz aus oder sie weiß es so abzuklären und derart auf pba_071.015
seinen allgemein menschlichen Kern zurückzuführen, daß die unmittelbare pba_071.016
Verständlichkeit nicht darunter leidet. Daher hat die echte Ballade ungeachtet pba_071.017
ihrer nur andeutenden Erzählungsweise
eine unbegrenzte pba_071.018
Wirkungskraft, welche sowohl die Schranken der Zeit als die pba_071.019
der Nation überspringt.

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Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist pba_071.021
die Romanze auf ein der Zeit und dem Schauplatze nach enge begrenztes pba_071.022
Gebiet eingeschränkt, auf die Nachahmung einer erst aus ganz pba_071.023
bestimmten Voraussetzungen erklärlichen und verständlichen Auffassungs- pba_071.024
und Gefühlsweise. Es ist die Gesinnung und die Art zu empfinden pba_071.025
und die daraus hervorgehende, völlig eigentümliche Sonderart des pba_071.026
Handelns, welche gegen das Ende des Mittelalters, vom elften bis zum pba_071.027
fünfzehnten Jahrhundert, vorzüglich aber im zwölften und dreizehnten pba_071.028
unter den romanischen Nationen entstanden war und auch den übrigen pba_071.029
abendländischen Völkern sich mitteilte, und zwar nicht sowohl die Gesamtheit pba_071.030
beherrschend als vornehmlich bei einem exklusiven Stande, der pba_071.031
ritterlichen Gesellschaft, darüber hinaus nur etwa durch ihre Ausstrahlungen pba_071.032
sich erstreckend; ferner doch auch so, daß sie bei weitem nicht pba_071.033
in dem Grade dem wirklichen Leben angehörte, als vielmehr recht pba_071.034
eigentlich ihren Ursprung und Sitz in einer sehr starken Erregung des pba_071.035
Phantasielebens hatte, welche gleichmäßig durch die kirchlichen, pba_071.036
politischen und socialen Zustände jener Zeit hervorgebracht und erhalten pba_071.037
wurde. Es war somit eine von Hause aus ihrem innersten Wesen nach pba_071.038
der dichterischen Stimmung verwandte Gefühlsweise, welche einem jeden pba_071.039
Gedanken, einer jeden Empfindung, jedem Entschließungsakte in jener pba_071.040
Epoche einen Stempel aufdrückte, der sie von der Denk-, Gefühls- und

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Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf pba_071.002
ein ganz bestimmt begrenztes Gebiet gewiesen, wodurch sich ihre Gesetzgebung pba_071.003
wesentlich modifiziert.

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Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des pba_071.005
Ganzen überwiegen, die erzählte äußere Handlung nur das Mittel sein; pba_071.006
ihr Zweck, also der Gegenstand der Nachahmung, ein Ethos. Soweit pba_071.007
wäre also die Romanze der Ballade völlig gleichgeartet; nun aber der pba_071.008
spezifische Unterschied! Der Ballade gehört das ganze, unermeßlich weite pba_071.009
Gebiet der rein menschlichen Ethe — die Anwendung des Plurals ist pba_071.010
hier geboten — zu; verschiedenartig gefärbt erscheinen dieselben nur je pba_071.011
nach der charakteristischen Eigenart der Nationen. Alles aber, was pba_071.012
darüber hinaus als besondere Beschaffenheit der Zeitumstände und als pba_071.013
Singularität der Epoche die Handlung bedingt, das schließt die Ballade pba_071.014
entweder ganz aus oder sie weiß es so abzuklären und derart auf pba_071.015
seinen allgemein menschlichen Kern zurückzuführen, daß die unmittelbare pba_071.016
Verständlichkeit nicht darunter leidet. Daher hat die echte Ballade ungeachtet pba_071.017
ihrer nur andeutenden Erzählungsweise
eine unbegrenzte pba_071.018
Wirkungskraft, welche sowohl die Schranken der Zeit als die pba_071.019
der Nation überspringt.

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Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist pba_071.021
die Romanze auf ein der Zeit und dem Schauplatze nach enge begrenztes pba_071.022
Gebiet eingeschränkt, auf die Nachahmung einer erst aus ganz pba_071.023
bestimmten Voraussetzungen erklärlichen und verständlichen Auffassungs- pba_071.024
und Gefühlsweise. Es ist die Gesinnung und die Art zu empfinden pba_071.025
und die daraus hervorgehende, völlig eigentümliche Sonderart des pba_071.026
Handelns, welche gegen das Ende des Mittelalters, vom elften bis zum pba_071.027
fünfzehnten Jahrhundert, vorzüglich aber im zwölften und dreizehnten pba_071.028
unter den romanischen Nationen entstanden war und auch den übrigen pba_071.029
abendländischen Völkern sich mitteilte, und zwar nicht sowohl die Gesamtheit pba_071.030
beherrschend als vornehmlich bei einem exklusiven Stande, der pba_071.031
ritterlichen Gesellschaft, darüber hinaus nur etwa durch ihre Ausstrahlungen pba_071.032
sich erstreckend; ferner doch auch so, daß sie bei weitem nicht pba_071.033
in dem Grade dem wirklichen Leben angehörte, als vielmehr recht pba_071.034
eigentlich ihren Ursprung und Sitz in einer sehr starken Erregung des pba_071.035
Phantasielebens hatte, welche gleichmäßig durch die kirchlichen, pba_071.036
politischen und socialen Zustände jener Zeit hervorgebracht und erhalten pba_071.037
wurde. Es war somit eine von Hause aus ihrem innersten Wesen nach pba_071.038
der dichterischen Stimmung verwandte Gefühlsweise, welche einem jeden pba_071.039
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/89>, abgerufen am 24.11.2024.