Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_078.001 Nur durch das Morgenthor des Schönen pba_078.026 Drangst du in der Erkenntnis Land. pba_078.027 An höhern Glanz sich zu gewöhnen, pba_078.028 Uebt sich am Reize der Verstand. pba_078.029 Was bei dem Saitenklang der Musen pba_078.030 Mit süßem Beben dich durchdrang, pba_078.031 Erzog die Kraft in deinem Busen, pba_078.032 Die sich dereinst znm Weltgeist schwang. pba_078.033
Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, pba_078.034 Die alternde Vernunft erfand, pba_078.035 Lag im Symbol des Schönen und des Großen pba_078.036 Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand. pba_078.037 Jhr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben, pba_078.038 Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt, pba_078.039 Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben, pba_078.040 Das matte Blüten langsam treibt. pba_078.041 Eh' vor des Denkers Geist der kühne pba_078.001 Nur durch das Morgenthor des Schönen pba_078.026 Drangst du in der Erkenntnis Land. pba_078.027 An höhern Glanz sich zu gewöhnen, pba_078.028 Uebt sich am Reize der Verstand. pba_078.029 Was bei dem Saitenklang der Musen pba_078.030 Mit süßem Beben dich durchdrang, pba_078.031 Erzog die Kraft in deinem Busen, pba_078.032 Die sich dereinst znm Weltgeist schwang. pba_078.033
Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, pba_078.034 Die alternde Vernunft erfand, pba_078.035 Lag im Symbol des Schönen und des Großen pba_078.036 Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand. pba_078.037 Jhr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben, pba_078.038 Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt, pba_078.039 Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben, pba_078.040 Das matte Blüten langsam treibt. pba_078.041 Eh' vor des Denkers Geist der kühne <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0096" n="78"/><lb n="pba_078.001"/> oder vermöge der Gemütszustände — <foreign xml:lang="grc">ήθη</foreign> — die sie anregen, ein durch <lb n="pba_078.002"/> beide oder durch eines von beiden beeinflußtes und fest bestimmtes, <lb n="pba_078.003"/> bleibendes Bild in dem Wahrnehmungsvermögen erzeugen, die <hi rendition="#g">ästhetische <lb n="pba_078.004"/> Wahrnehmung</hi> — <foreign xml:lang="grc">αἴσθησις</foreign> —. Hier tritt nun sofort und <lb n="pba_078.005"/> unmittelbar die Denkthätigkeit beobachtend und kontrollierend hinzu und <lb n="pba_078.006"/> stellt die Merkmale, welche jenes Bild kennzeichnen und seine Wirkung <lb n="pba_078.007"/> auf die Empfindung (welche hier im <hi rendition="#g">weitesten Sinne</hi> die <hi rendition="#g">ästhetische</hi> <lb n="pba_078.008"/> zu nennen ist) bedingen, zu einem zweiten Abbilde des erregenden Objektes <lb n="pba_078.009"/> zusammen, der <hi rendition="#g">geistigen Wahrnehmung</hi> — <foreign xml:lang="grc">νόησις</foreign>. Beide <lb n="pba_078.010"/> vereinigt, die Sinnes- und Gefühlswahrnehmung und die geistige Wahrnehmung <lb n="pba_078.011"/> — die <hi rendition="#g">ästhetische</hi> und die <hi rendition="#g">noetische</hi> — setzen dann die <lb n="pba_078.012"/> <hi rendition="#g">Phantasie</hi> in den Stand, nicht allein die Bilder solcher Dinge <hi rendition="#g">selbstthätig <lb n="pba_078.013"/> zu wiederholen,</hi> sondern auch, indem die erstere die Formen <lb n="pba_078.014"/> überliefert, die andre das <hi rendition="#g">Gesetz ihrer Bildung und Verbindung</hi> <lb n="pba_078.015"/> hinzubringt, solche Bilder <hi rendition="#g">neu zu schaffen.</hi> So ist in den schöpferischen <lb n="pba_078.016"/> Gebilden der Phantasie der Keim des Gedankens, gewissermaßen das <lb n="pba_078.017"/> Material zu den Begriffen, schon enthalten, und zwar zu um so höheren <lb n="pba_078.018"/> Gedanken und zu um so reineren Begriffen, je <hi rendition="#g">schöner</hi> diese Gebilde <lb n="pba_078.019"/> sind. Diese innige und unlösliche Verbindung der Thätigkeit der Erkenntnis- <lb n="pba_078.020"/> und Empfindungskräfte, die bei der Hervorbringung des Schönen <lb n="pba_078.021"/> ebensowohl obwaltet als bei dem Genießen desselben, bildet das Grundthema <lb n="pba_078.022"/> von <hi rendition="#g">Schillers</hi> „<hi rendition="#g">Künstlern</hi>“, welchem er namentlich in dem ersten <lb n="pba_078.023"/> Teile dieser Dichtung einen äußerst prägnanten Ausdruck gegeben hat; am <lb n="pba_078.024"/> meisten in den folgenden beiden Strophen:</p> <lb n="pba_078.025"/> <lg> <l>Nur durch das Morgenthor des Schönen</l> <lb n="pba_078.026"/> <l>Drangst du in der Erkenntnis Land.</l> <lb n="pba_078.027"/> <l>An höhern Glanz sich zu gewöhnen,</l> <lb n="pba_078.028"/> <l>Uebt sich am Reize der Verstand.</l> <lb n="pba_078.029"/> <l>Was bei dem Saitenklang der Musen</l> <lb n="pba_078.030"/> <l>Mit süßem Beben dich durchdrang,</l> <lb n="pba_078.031"/> <l>Erzog die Kraft in deinem Busen,</l> <lb n="pba_078.032"/> <l>Die sich dereinst znm Weltgeist schwang. </l> </lg> <lg> <lb n="pba_078.033"/> <l>Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen,</l> <lb n="pba_078.034"/> <l>Die alternde Vernunft erfand,</l> <lb n="pba_078.035"/> <l>Lag im Symbol des Schönen und des Großen</l> <lb n="pba_078.036"/> <l>Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand.</l> <lb n="pba_078.037"/> <l>Jhr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben,</l> <lb n="pba_078.038"/> <l>Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt,</l> <lb n="pba_078.039"/> <l>Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben,</l> <lb n="pba_078.040"/> <l>Das matte Blüten langsam treibt.</l> <lb n="pba_078.041"/> <l>Eh' vor des Denkers Geist der kühne</l> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [78/0096]
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oder vermöge der Gemütszustände — ήθη — die sie anregen, ein durch pba_078.002
beide oder durch eines von beiden beeinflußtes und fest bestimmtes, pba_078.003
bleibendes Bild in dem Wahrnehmungsvermögen erzeugen, die ästhetische pba_078.004
Wahrnehmung — αἴσθησις —. Hier tritt nun sofort und pba_078.005
unmittelbar die Denkthätigkeit beobachtend und kontrollierend hinzu und pba_078.006
stellt die Merkmale, welche jenes Bild kennzeichnen und seine Wirkung pba_078.007
auf die Empfindung (welche hier im weitesten Sinne die ästhetische pba_078.008
zu nennen ist) bedingen, zu einem zweiten Abbilde des erregenden Objektes pba_078.009
zusammen, der geistigen Wahrnehmung — νόησις. Beide pba_078.010
vereinigt, die Sinnes- und Gefühlswahrnehmung und die geistige Wahrnehmung pba_078.011
— die ästhetische und die noetische — setzen dann die pba_078.012
Phantasie in den Stand, nicht allein die Bilder solcher Dinge selbstthätig pba_078.013
zu wiederholen, sondern auch, indem die erstere die Formen pba_078.014
überliefert, die andre das Gesetz ihrer Bildung und Verbindung pba_078.015
hinzubringt, solche Bilder neu zu schaffen. So ist in den schöpferischen pba_078.016
Gebilden der Phantasie der Keim des Gedankens, gewissermaßen das pba_078.017
Material zu den Begriffen, schon enthalten, und zwar zu um so höheren pba_078.018
Gedanken und zu um so reineren Begriffen, je schöner diese Gebilde pba_078.019
sind. Diese innige und unlösliche Verbindung der Thätigkeit der Erkenntnis- pba_078.020
und Empfindungskräfte, die bei der Hervorbringung des Schönen pba_078.021
ebensowohl obwaltet als bei dem Genießen desselben, bildet das Grundthema pba_078.022
von Schillers „Künstlern“, welchem er namentlich in dem ersten pba_078.023
Teile dieser Dichtung einen äußerst prägnanten Ausdruck gegeben hat; am pba_078.024
meisten in den folgenden beiden Strophen:
pba_078.025
Nur durch das Morgenthor des Schönen pba_078.026
Drangst du in der Erkenntnis Land. pba_078.027
An höhern Glanz sich zu gewöhnen, pba_078.028
Uebt sich am Reize der Verstand. pba_078.029
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Erzog die Kraft in deinem Busen, pba_078.032
Die sich dereinst znm Weltgeist schwang.
pba_078.033
Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, pba_078.034
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Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben, pba_078.040
Das matte Blüten langsam treibt. pba_078.041
Eh' vor des Denkers Geist der kühne
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