Wir verlebten unsere Tage, der Bedrohung mit Mord und Brand nicht mehr achtend, in der heitersten Stimmung. Das köst- liche Wetter lockte zu weiten Ausflügen innerhalb der Stadt, denn draussen waren die Wege unergründlich, die Reisfelder in Sümpfe verwandelt und zum Theil schon mit Wasser bedeckt, die sie durchschneidenden schmalen Dämme völlig aufgeweicht. Es fror jede Nacht und das zolldicke Eis auf den Gräben thaute auch bei Tage trotz aller Pracht des Sonnenscheins nicht ganz. Auf den Spazierritten begegnete uns nie etwas Unangenehmes; die Haltung des Volkes war so freundlich wie früher, die der Samrai nicht drohender; wir waren so sorglos wie jemals zuvor. -- Sonntag den 6. Januar hielt ein amerikanischer Missionar in der Wohnung des Herrn Harris Gottesdienst, zu dem sich die Mitglieder der preussi- schen und der englischen Gesandtschaft sämmtlich eingefunden hatten; nachher blieben die jüngeren Leute in heiterem Gespräch noch eine Weile bei Heusken zusammen, der ein französisches Gedicht von sprudelndem Witz, voll Beziehungen auf unsere Lage und die kleinen Ereignisse des Tages vorlas. Er war in dieser Zeit so voll Lebensfrische und Frohsinn, wie wir ihn nie gesehen, lud fast täglich einige seiner Freunde von unserer und den anderen Legationen zum Essen ein und bewirthete sie auf das ausgesuchteste. An diese heiteren Sitzungen, bei welchen seine unerschöpfliche Laune in den geistreichsten Einfällen glänzte, können seine damaligen Gäste noch heut kaum ohne Rührung zurückdenken. Heusken hatte, einer angesehenen Familie entstammend, die reichste und glücklichste Jugend genossen, dann aber, als sein Vater durch Unglücksfälle plötzlich verarmte und bald darauf starb, alle Bitterkeiten des Lebens kennen gelernt. Er erkämpfte sich mühsam seine Existenz, als der Zufall ihn in Amerika Herrn Harris zuführte, der damals als Consul nach Japan ging. Seitdem blühte sein Glück wieder auf. Er gewann das volle Vertrauen seines Chefs, mit dem er in Simoda Jahre lang in tiefster Einsamkeit lebte; seine Stellung wurde durch seine unentbehrliche Mitwirkung bei allen Verträgen immer einflussreicher und vortheilhafter, er lebte in Wohlstand, unterstützte seine bejahrte Mutter in Amsterdam durch reiche Spenden, und hatte für die Zukunft die besten, ja glänzende Aus- sichten. Man fühlte sich mit ihm wohl in seiner Existenz, das Behagen der Lage sprach sich auch in seiner äusseren Umgebung aus. Vor dem heimlichen kleinen Hause blühte ein zierliches
Wir verlebten unsere Tage, der Bedrohung mit Mord und Brand nicht mehr achtend, in der heitersten Stimmung. Das köst- liche Wetter lockte zu weiten Ausflügen innerhalb der Stadt, denn draussen waren die Wege unergründlich, die Reisfelder in Sümpfe verwandelt und zum Theil schon mit Wasser bedeckt, die sie durchschneidenden schmalen Dämme völlig aufgeweicht. Es fror jede Nacht und das zolldicke Eis auf den Gräben thaute auch bei Tage trotz aller Pracht des Sonnenscheins nicht ganz. Auf den Spazierritten begegnete uns nie etwas Unangenehmes; die Haltung des Volkes war so freundlich wie früher, die der Samraï nicht drohender; wir waren so sorglos wie jemals zuvor. — Sonntag den 6. Januar hielt ein amerikanischer Missionar in der Wohnung des Herrn Harris Gottesdienst, zu dem sich die Mitglieder der preussi- schen und der englischen Gesandtschaft sämmtlich eingefunden hatten; nachher blieben die jüngeren Leute in heiterem Gespräch noch eine Weile bei Heusken zusammen, der ein französisches Gedicht von sprudelndem Witz, voll Beziehungen auf unsere Lage und die kleinen Ereignisse des Tages vorlas. Er war in dieser Zeit so voll Lebensfrische und Frohsinn, wie wir ihn nie gesehen, lud fast täglich einige seiner Freunde von unserer und den anderen Legationen zum Essen ein und bewirthete sie auf das ausgesuchteste. An diese heiteren Sitzungen, bei welchen seine unerschöpfliche Laune in den geistreichsten Einfällen glänzte, können seine damaligen Gäste noch heut kaum ohne Rührung zurückdenken. Heusken hatte, einer angesehenen Familie entstammend, die reichste und glücklichste Jugend genossen, dann aber, als sein Vater durch Unglücksfälle plötzlich verarmte und bald darauf starb, alle Bitterkeiten des Lebens kennen gelernt. Er erkämpfte sich mühsam seine Existenz, als der Zufall ihn in Amerika Herrn Harris zuführte, der damals als Consul nach Japan ging. Seitdem blühte sein Glück wieder auf. Er gewann das volle Vertrauen seines Chefs, mit dem er in Simoda Jahre lang in tiefster Einsamkeit lebte; seine Stellung wurde durch seine unentbehrliche Mitwirkung bei allen Verträgen immer einflussreicher und vortheilhafter, er lebte in Wohlstand, unterstützte seine bejahrte Mutter in Amsterdam durch reiche Spenden, und hatte für die Zukunft die besten, ja glänzende Aus- sichten. Man fühlte sich mit ihm wohl in seiner Existenz, das Behagen der Lage sprach sich auch in seiner äusseren Umgebung aus. Vor dem heimlichen kleinen Hause blühte ein zierliches
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X. Die Lage. — Heusken.
Wir verlebten unsere Tage, der Bedrohung mit Mord und
Brand nicht mehr achtend, in der heitersten Stimmung. Das köst-
liche Wetter lockte zu weiten Ausflügen innerhalb der Stadt, denn
draussen waren die Wege unergründlich, die Reisfelder in Sümpfe
verwandelt und zum Theil schon mit Wasser bedeckt, die sie
durchschneidenden schmalen Dämme völlig aufgeweicht. Es fror
jede Nacht und das zolldicke Eis auf den Gräben thaute auch bei
Tage trotz aller Pracht des Sonnenscheins nicht ganz. Auf den
Spazierritten begegnete uns nie etwas Unangenehmes; die Haltung
des Volkes war so freundlich wie früher, die der Samraï nicht
drohender; wir waren so sorglos wie jemals zuvor. — Sonntag den
6. Januar hielt ein amerikanischer Missionar in der Wohnung des
Herrn Harris Gottesdienst, zu dem sich die Mitglieder der preussi-
schen und der englischen Gesandtschaft sämmtlich eingefunden
hatten; nachher blieben die jüngeren Leute in heiterem Gespräch
noch eine Weile bei Heusken zusammen, der ein französisches
Gedicht von sprudelndem Witz, voll Beziehungen auf unsere Lage
und die kleinen Ereignisse des Tages vorlas. Er war in dieser
Zeit so voll Lebensfrische und Frohsinn, wie wir ihn nie gesehen,
lud fast täglich einige seiner Freunde von unserer und den anderen
Legationen zum Essen ein und bewirthete sie auf das ausgesuchteste.
An diese heiteren Sitzungen, bei welchen seine unerschöpfliche Laune
in den geistreichsten Einfällen glänzte, können seine damaligen Gäste
noch heut kaum ohne Rührung zurückdenken. Heusken hatte,
einer angesehenen Familie entstammend, die reichste und glücklichste
Jugend genossen, dann aber, als sein Vater durch Unglücksfälle
plötzlich verarmte und bald darauf starb, alle Bitterkeiten
des Lebens kennen gelernt. Er erkämpfte sich mühsam seine
Existenz, als der Zufall ihn in Amerika Herrn Harris zuführte, der
damals als Consul nach Japan ging. Seitdem blühte sein Glück
wieder auf. Er gewann das volle Vertrauen seines Chefs, mit dem
er in Simoda Jahre lang in tiefster Einsamkeit lebte; seine Stellung
wurde durch seine unentbehrliche Mitwirkung bei allen Verträgen
immer einflussreicher und vortheilhafter, er lebte in Wohlstand,
unterstützte seine bejahrte Mutter in Amsterdam durch reiche
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sichten. Man fühlte sich mit ihm wohl in seiner Existenz, das
Behagen der Lage sprach sich auch in seiner äusseren Umgebung
aus. Vor dem heimlichen kleinen Hause blühte ein zierliches
II. 10
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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien02_1866/165>, abgerufen am 24.11.2024.
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