Hand und sagten "Gute Nacht". -- Die Anstalt erfreute sich in Hong-kong reger Theilnahme; zum Hausbau wurden dort 5000 Dollars gesammelt, und erst kürzlich hatte ein Nachbar ihr sein Grundstück für den nominellen Jahreszins von einem Dollar über- wiesen. Der Missionar Lechler fungirte als Geistlicher des Fin- delhauses.
Bei diesem Anlass muss constatirt werden, dass Gützlaff's Berichte über das Aussetzen der Kinder auch bei den Fremden in China allgemeine Entrüstung erweckt haben und von gewissen- haften Männern, welche der Sache gründlich nachspürten, als höchst übertrieben bezeichnet werden. Die Thatsachen beschränken sich darauf, dass in den allerärmsten übervölkerten Bezirken der süd- lichen Provinzen, -- wahrscheinlich nur in Kuan-tun, zuweilen neugeborne Mädchen ausgesetzt werden. Den Wahn, dass die Be- hörden den Kindermord stillschweigend gut heissen, widerlegen die öffentlichen Warnungen, welche im Laufe der Jahre in der Provinz Kuan-tun dagegen erlassen worden sind. 44) Das Ge- setz straft die Tödtung solcher Kinder, die sich nicht durch Un- gehorsam an den Eltern vergingen, mit Geisselung und Verbannung, und eine Proclamation des Vicekönigs von Kuan-tun brachte noch 1866 ein vom Kaiser Kien-lon 1773 erlassenes Decret in Erinne- rung, welches stark betont, dass Neugeborne und Kinder in zartem Alter niemals ungehorsam sein können, dass ein an solchen began- gener Mord nach der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft werden soll. -- Knaben werden niemals ausgesetzt, Mädchen, wie gesagt, in den ärmsten Bezirken des Südens zuweilen. Gützlaff's Erzählun- gen haben aber bei uns einen Wahn erzeugt, als ob der Kinder- mord ein durch ganz China verbreitetes, vom Staate gefördertes Verbrechen wäre. Das ist falsch. Der Chinese liebt seine Kinder so gut wie der Deutsche, und die Regierung, die sich mehr als jede andere auf eine sittliche Weltordnung stützt, war zu allen Zeiten weit entfernt, solches Verbrechen zu fördern. -- Gützlaff soll von Thürmen berichtet haben, welche die Obrigkeit ausdrücklich zum Aussetzen der Kinder bauen liesse; es ist aber constatirt, dass solche Behältnisse nur zur Aufnahme von Kinderleichen der ärm- sten Classe bestimmt sind.
Am 15. November fuhren Graf Eulenburg, Capitän Sunde- wall und einige andere Herren mit dem englischen Kanonenboot
44) S. Notes and queries on China and Japan. Dec. 1867. S. 4.
Der Kindermord. XIX.
Hand und sagten »Gute Nacht«. — Die Anstalt erfreute sich in Hong-kong reger Theilnahme; zum Hausbau wurden dort 5000 Dollars gesammelt, und erst kürzlich hatte ein Nachbar ihr sein Grundstück für den nominellen Jahreszins von einem Dollar über- wiesen. Der Missionar Lechler fungirte als Geistlicher des Fin- delhauses.
Bei diesem Anlass muss constatirt werden, dass Gützlaff’s Berichte über das Aussetzen der Kinder auch bei den Fremden in China allgemeine Entrüstung erweckt haben und von gewissen- haften Männern, welche der Sache gründlich nachspürten, als höchst übertrieben bezeichnet werden. Die Thatsachen beschränken sich darauf, dass in den allerärmsten übervölkerten Bezirken der süd- lichen Provinzen, — wahrscheinlich nur in Kuaṅ-tuṅ, zuweilen neugeborne Mädchen ausgesetzt werden. Den Wahn, dass die Be- hörden den Kindermord stillschweigend gut heissen, widerlegen die öffentlichen Warnungen, welche im Laufe der Jahre in der Provinz Kuaṅ-tuṅ dagegen erlassen worden sind. 44) Das Ge- setz straft die Tödtung solcher Kinder, die sich nicht durch Un- gehorsam an den Eltern vergingen, mit Geisselung und Verbannung, und eine Proclamation des Vicekönigs von Kuaṅ-tuṅ brachte noch 1866 ein vom Kaiser Kien-loṅ 1773 erlassenes Decret in Erinne- rung, welches stark betont, dass Neugeborne und Kinder in zartem Alter niemals ungehorsam sein können, dass ein an solchen began- gener Mord nach der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft werden soll. — Knaben werden niemals ausgesetzt, Mädchen, wie gesagt, in den ärmsten Bezirken des Südens zuweilen. Gützlaff’s Erzählun- gen haben aber bei uns einen Wahn erzeugt, als ob der Kinder- mord ein durch ganz China verbreitetes, vom Staate gefördertes Verbrechen wäre. Das ist falsch. Der Chinese liebt seine Kinder so gut wie der Deutsche, und die Regierung, die sich mehr als jede andere auf eine sittliche Weltordnung stützt, war zu allen Zeiten weit entfernt, solches Verbrechen zu fördern. — Gützlaff soll von Thürmen berichtet haben, welche die Obrigkeit ausdrücklich zum Aussetzen der Kinder bauen liesse; es ist aber constatirt, dass solche Behältnisse nur zur Aufnahme von Kinderleichen der ärm- sten Classe bestimmt sind.
Am 15. November fuhren Graf Eulenburg, Capitän Sunde- wall und einige andere Herren mit dem englischen Kanonenboot
44) S. Notes and queries on China and Japan. Dec. 1867. S. 4.
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Der Kindermord. XIX.
Hand und sagten »Gute Nacht«. — Die Anstalt erfreute sich in
Hong-kong reger Theilnahme; zum Hausbau wurden dort 5000
Dollars gesammelt, und erst kürzlich hatte ein Nachbar ihr sein
Grundstück für den nominellen Jahreszins von einem Dollar über-
wiesen. Der Missionar Lechler fungirte als Geistlicher des Fin-
delhauses.
Bei diesem Anlass muss constatirt werden, dass Gützlaff’s
Berichte über das Aussetzen der Kinder auch bei den Fremden in
China allgemeine Entrüstung erweckt haben und von gewissen-
haften Männern, welche der Sache gründlich nachspürten, als höchst
übertrieben bezeichnet werden. Die Thatsachen beschränken sich
darauf, dass in den allerärmsten übervölkerten Bezirken der süd-
lichen Provinzen, — wahrscheinlich nur in Kuaṅ-tuṅ, zuweilen
neugeborne Mädchen ausgesetzt werden. Den Wahn, dass die Be-
hörden den Kindermord stillschweigend gut heissen, widerlegen
die öffentlichen Warnungen, welche im Laufe der Jahre in der
Provinz Kuaṅ-tuṅ dagegen erlassen worden sind. 44) Das Ge-
setz straft die Tödtung solcher Kinder, die sich nicht durch Un-
gehorsam an den Eltern vergingen, mit Geisselung und Verbannung,
und eine Proclamation des Vicekönigs von Kuaṅ-tuṅ brachte noch
1866 ein vom Kaiser Kien-loṅ 1773 erlassenes Decret in Erinne-
rung, welches stark betont, dass Neugeborne und Kinder in zartem
Alter niemals ungehorsam sein können, dass ein an solchen began-
gener Mord nach der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft werden
soll. — Knaben werden niemals ausgesetzt, Mädchen, wie gesagt,
in den ärmsten Bezirken des Südens zuweilen. Gützlaff’s Erzählun-
gen haben aber bei uns einen Wahn erzeugt, als ob der Kinder-
mord ein durch ganz China verbreitetes, vom Staate gefördertes
Verbrechen wäre. Das ist falsch. Der Chinese liebt seine Kinder
so gut wie der Deutsche, und die Regierung, die sich mehr als jede
andere auf eine sittliche Weltordnung stützt, war zu allen Zeiten
weit entfernt, solches Verbrechen zu fördern. — Gützlaff soll von
Thürmen berichtet haben, welche die Obrigkeit ausdrücklich zum
Aussetzen der Kinder bauen liesse; es ist aber constatirt, dass
solche Behältnisse nur zur Aufnahme von Kinderleichen der ärm-
sten Classe bestimmt sind.
Am 15. November fuhren Graf Eulenburg, Capitän Sunde-
wall und einige andere Herren mit dem englischen Kanonenboot
44) S. Notes and queries on China and Japan. Dec. 1867. S. 4.
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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/198>, abgerufen am 16.07.2024.
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