Nach ungefähr dreiviertelstündigem Steigen waren wir auf der Höhe des Col; uns zur Rechten der verwitterte Felszahn des Jaman, schwarzgrau und geisterhaft aus dem schweren Nebelmantel hervorschauend. Hier, wo sonst bei hellem Wetter jene bezaubernd schöne Aussicht sich entfaltet, die als die prächtigste am ganzen Leman gilt, standen wir in kalter Zugluft, im überströmenden Re¬ gen, eingehüllt in ein trübes, unheimliches Dunstmeer, das nur da und dort sich massiger, schwerer zusammenballte, während an ande¬ ren Stellen die Nebel vom Winde zerrissen, in gestreckten, phan¬ tastischen Formen und Gebilden, wie Nachzügler des wilden Heeres, vorüberjagten. -- Der kurze Alpenrasen war durch den Regen un¬ gemein glatt und schlüpfrig geworden, so daß auf ihm, wo der Weg sich senkte, nicht wohl mit festem und sicherm Tritt zu gehen war. Von eigentlichen Wegen kann indeß, wie überall auf einer Alpweide, nicht füglich die Rede sein; da laufen Hunderte schein¬ barer Pfade, d. h. langer Linien, welche die Rasen- und Pflanzen¬ decke des Bodens durchschneiden, und wo entweder das nackte Ge¬ stein zu Tage tritt, oder geröllähnliches Steingebröckel den Weg zu bilden scheint, -- hunderte solcher Pfade laufen nebeneinander her, durchkreuzen sich, brechen ab und gestalten, zumal im Nebel, ein Labyrinth, das Jeden, der mit der Gegend nicht ganz wohl be¬ kannt und sicher vertraut ist, leicht ihre führen kann.
Mein Simmenthaler Führer ließ eine lange Reihe heller, ju¬ belnder Jauchzer ertönen, trotz Nässe der Kleider und Ungunst des Wetters. Das ist ächt sennenmäßig. Seine Jodler wurden be¬ antwortet von mehren Seiten her, -- aber von wem? konnten wir nicht sehen; aus dem Nebel kamen die Antworten.
Raschen Schrittes gings bergab; mitunter im beflügelten Ba¬ lancirschritt, mitunter halbgleitend, so daß der Alpstock fast diesel¬ ben Dienste leisten mußte, wie wenn man über ein flachabschüssiges Firnfeld hinabgleitet. Es währte nicht lange, so kamen wir bei einer großen reinlichen Alphütte an. Wir waren auf Freiburger
Eine Nebel-Novelle.
Nach ungefähr dreiviertelſtündigem Steigen waren wir auf der Höhe des Col; uns zur Rechten der verwitterte Felszahn des Jaman, ſchwarzgrau und geiſterhaft aus dem ſchweren Nebelmantel hervorſchauend. Hier, wo ſonſt bei hellem Wetter jene bezaubernd ſchöne Ausſicht ſich entfaltet, die als die prächtigſte am ganzen Leman gilt, ſtanden wir in kalter Zugluft, im überſtrömenden Re¬ gen, eingehüllt in ein trübes, unheimliches Dunſtmeer, das nur da und dort ſich maſſiger, ſchwerer zuſammenballte, während an ande¬ ren Stellen die Nebel vom Winde zerriſſen, in geſtreckten, phan¬ taſtiſchen Formen und Gebilden, wie Nachzügler des wilden Heeres, vorüberjagten. — Der kurze Alpenraſen war durch den Regen un¬ gemein glatt und ſchlüpfrig geworden, ſo daß auf ihm, wo der Weg ſich ſenkte, nicht wohl mit feſtem und ſicherm Tritt zu gehen war. Von eigentlichen Wegen kann indeß, wie überall auf einer Alpweide, nicht füglich die Rede ſein; da laufen Hunderte ſchein¬ barer Pfade, d. h. langer Linien, welche die Raſen- und Pflanzen¬ decke des Bodens durchſchneiden, und wo entweder das nackte Ge¬ ſtein zu Tage tritt, oder geröllähnliches Steingebröckel den Weg zu bilden ſcheint, — hunderte ſolcher Pfade laufen nebeneinander her, durchkreuzen ſich, brechen ab und geſtalten, zumal im Nebel, ein Labyrinth, das Jeden, der mit der Gegend nicht ganz wohl be¬ kannt und ſicher vertraut iſt, leicht ihre führen kann.
Mein Simmenthaler Führer ließ eine lange Reihe heller, ju¬ belnder Jauchzer ertönen, trotz Näſſe der Kleider und Ungunſt des Wetters. Das iſt ächt ſennenmäßig. Seine Jodler wurden be¬ antwortet von mehren Seiten her, — aber von wem? konnten wir nicht ſehen; aus dem Nebel kamen die Antworten.
Raſchen Schrittes gings bergab; mitunter im beflügelten Ba¬ lancirſchritt, mitunter halbgleitend, ſo daß der Alpſtock faſt dieſel¬ ben Dienſte leiſten mußte, wie wenn man über ein flachabſchüſſiges Firnfeld hinabgleitet. Es währte nicht lange, ſo kamen wir bei einer großen reinlichen Alphütte an. Wir waren auf Freiburger
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Eine Nebel-Novelle.
Nach ungefähr dreiviertelſtündigem Steigen waren wir auf
der Höhe des Col; uns zur Rechten der verwitterte Felszahn des
Jaman, ſchwarzgrau und geiſterhaft aus dem ſchweren Nebelmantel
hervorſchauend. Hier, wo ſonſt bei hellem Wetter jene bezaubernd
ſchöne Ausſicht ſich entfaltet, die als die prächtigſte am ganzen
Leman gilt, ſtanden wir in kalter Zugluft, im überſtrömenden Re¬
gen, eingehüllt in ein trübes, unheimliches Dunſtmeer, das nur da
und dort ſich maſſiger, ſchwerer zuſammenballte, während an ande¬
ren Stellen die Nebel vom Winde zerriſſen, in geſtreckten, phan¬
taſtiſchen Formen und Gebilden, wie Nachzügler des wilden Heeres,
vorüberjagten. — Der kurze Alpenraſen war durch den Regen un¬
gemein glatt und ſchlüpfrig geworden, ſo daß auf ihm, wo der
Weg ſich ſenkte, nicht wohl mit feſtem und ſicherm Tritt zu gehen
war. Von eigentlichen Wegen kann indeß, wie überall auf einer
Alpweide, nicht füglich die Rede ſein; da laufen Hunderte ſchein¬
barer Pfade, d. h. langer Linien, welche die Raſen- und Pflanzen¬
decke des Bodens durchſchneiden, und wo entweder das nackte Ge¬
ſtein zu Tage tritt, oder geröllähnliches Steingebröckel den Weg
zu bilden ſcheint, — hunderte ſolcher Pfade laufen nebeneinander
her, durchkreuzen ſich, brechen ab und geſtalten, zumal im Nebel,
ein Labyrinth, das Jeden, der mit der Gegend nicht ganz wohl be¬
kannt und ſicher vertraut iſt, leicht ihre führen kann.
Mein Simmenthaler Führer ließ eine lange Reihe heller, ju¬
belnder Jauchzer ertönen, trotz Näſſe der Kleider und Ungunſt des
Wetters. Das iſt ächt ſennenmäßig. Seine Jodler wurden be¬
antwortet von mehren Seiten her, — aber von wem? konnten wir
nicht ſehen; aus dem Nebel kamen die Antworten.
Raſchen Schrittes gings bergab; mitunter im beflügelten Ba¬
lancirſchritt, mitunter halbgleitend, ſo daß der Alpſtock faſt dieſel¬
ben Dienſte leiſten mußte, wie wenn man über ein flachabſchüſſiges
Firnfeld hinabgleitet. Es währte nicht lange, ſo kamen wir bei
einer großen reinlichen Alphütte an. Wir waren auf Freiburger
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/153>, abgerufen am 21.11.2024.
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