Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Schneesturm.

Im Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetrans¬
port in die Lombardei gebracht und befanden sich auf dem Heim¬
wege. Alle waren kräftige, gesunde Männer, die daheim schon
manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe über¬
wunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 11/4 Stunde südlich unter
dem gleichnamigen Bergübergange im Kanton Graubünden (auf
der Linie von Chur nach Bellinzona), wo sie einkehrten, warnte
man sie dringend, ihren Weg fortzusetzen, weil ein Schneesturm im
Anzuge und deshalb die Passage lebensgefährlich sei. Allein an¬
gefeuert durch starken Veltliner Wein und im Bewußtsein des Voll¬
besitzes ihrer ungeschwächten physischen Kräfte, gaben sie allen Vor¬
stellungen kein Gehör und rüsteten zur verhängnißvollen Reise.
Damals bestand die gegenwärtige Kunststraße noch nicht, und das
jetzt, oberhalb der Victor Emanuels-Brücke, am kleinen Moesola-
See stehende sturmestrotzige, feste steinerne Berghaus auf der Ueber¬
gangshöhe existirte eben so wenig. Es war somit vom Dorfe Ber¬
nardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbroche¬
ner Marsch von 31/2 Stunden Entfernung, zu welchem aber bei
dem, durch die gefallene Schneemenge, erschwerten Fortkommen,
mindestens 5 Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbesonnenheit der
Fremden konnte ein anwesender Landmann aus dem Dorfe Hinter¬
rhein nicht mit ansehen, und Er, der sich selbst nicht getraut hatte,
den Heimweg anzutreten, schloß sich nun, als alle Gegenreden
fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindestens als
Führer zu dienen. Das Unwetter brach in seiner ganzen Furcht¬
barkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Passes er¬
reicht hatten. Anfangs unter leichtsinnigen Scherzen, dann mit
ernstlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpf¬
ten sie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, -- allein
vergebens. So sehr der wackere Rheinwäldler Allem aufbot, um die
Unglücklichen zu retten, so sank dennoch Einer nach dem Anderen,
zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtsein resignirend, dem

Der Schneeſturm.

Im Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetrans¬
port in die Lombardei gebracht und befanden ſich auf dem Heim¬
wege. Alle waren kräftige, geſunde Männer, die daheim ſchon
manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe über¬
wunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 1¼ Stunde ſüdlich unter
dem gleichnamigen Bergübergange im Kanton Graubünden (auf
der Linie von Chur nach Bellinzona), wo ſie einkehrten, warnte
man ſie dringend, ihren Weg fortzuſetzen, weil ein Schneeſturm im
Anzuge und deshalb die Paſſage lebensgefährlich ſei. Allein an¬
gefeuert durch ſtarken Veltliner Wein und im Bewußtſein des Voll¬
beſitzes ihrer ungeſchwächten phyſiſchen Kräfte, gaben ſie allen Vor¬
ſtellungen kein Gehör und rüſteten zur verhängnißvollen Reiſe.
Damals beſtand die gegenwärtige Kunſtſtraße noch nicht, und das
jetzt, oberhalb der Victor Emanuels-Brücke, am kleinen Moëſola-
See ſtehende ſturmestrotzige, feſte ſteinerne Berghaus auf der Ueber¬
gangshöhe exiſtirte eben ſo wenig. Es war ſomit vom Dorfe Ber¬
nardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbroche¬
ner Marſch von 3½ Stunden Entfernung, zu welchem aber bei
dem, durch die gefallene Schneemenge, erſchwerten Fortkommen,
mindeſtens 5 Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbeſonnenheit der
Fremden konnte ein anweſender Landmann aus dem Dorfe Hinter¬
rhein nicht mit anſehen, und Er, der ſich ſelbſt nicht getraut hatte,
den Heimweg anzutreten, ſchloß ſich nun, als alle Gegenreden
fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindeſtens als
Führer zu dienen. Das Unwetter brach in ſeiner ganzen Furcht¬
barkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Paſſes er¬
reicht hatten. Anfangs unter leichtſinnigen Scherzen, dann mit
ernſtlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpf¬
ten ſie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, — allein
vergebens. So ſehr der wackere Rheinwäldler Allem aufbot, um die
Unglücklichen zu retten, ſo ſank dennoch Einer nach dem Anderen,
zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtſein reſignirend, dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0202" n="174"/>
        <fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Schnee&#x017F;turm</hi>.<lb/></fw>
        <p>Im Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetrans¬<lb/>
port in die Lombardei gebracht und befanden &#x017F;ich auf dem Heim¬<lb/>
wege. Alle waren kräftige, ge&#x017F;unde Männer, die daheim &#x017F;chon<lb/>
manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe über¬<lb/>
wunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 1¼ Stunde &#x017F;üdlich unter<lb/>
dem gleichnamigen Bergübergange im Kanton Graubünden (auf<lb/>
der Linie von Chur nach Bellinzona), wo &#x017F;ie einkehrten, warnte<lb/>
man &#x017F;ie dringend, ihren Weg fortzu&#x017F;etzen, weil ein Schnee&#x017F;turm im<lb/>
Anzuge und deshalb die Pa&#x017F;&#x017F;age lebensgefährlich &#x017F;ei. Allein an¬<lb/>
gefeuert durch &#x017F;tarken Veltliner Wein und im Bewußt&#x017F;ein des Voll¬<lb/>
be&#x017F;itzes ihrer unge&#x017F;chwächten phy&#x017F;i&#x017F;chen Kräfte, gaben &#x017F;ie allen Vor¬<lb/>
&#x017F;tellungen kein Gehör und rü&#x017F;teten zur verhängnißvollen Rei&#x017F;e.<lb/>
Damals be&#x017F;tand die gegenwärtige Kun&#x017F;t&#x017F;traße noch nicht, und das<lb/>
jetzt, oberhalb der Victor Emanuels-Brücke, am kleinen Mo<hi rendition="#aq">ë</hi>&#x017F;ola-<lb/>
See &#x017F;tehende &#x017F;turmestrotzige, fe&#x017F;te &#x017F;teinerne Berghaus auf der Ueber¬<lb/>
gangshöhe exi&#x017F;tirte eben &#x017F;o wenig. Es war &#x017F;omit vom Dorfe Ber¬<lb/>
nardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbroche¬<lb/>
ner Mar&#x017F;ch von 3½ Stunden Entfernung, zu welchem aber bei<lb/>
dem, durch die gefallene Schneemenge, er&#x017F;chwerten Fortkommen,<lb/>
minde&#x017F;tens 5 Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbe&#x017F;onnenheit der<lb/>
Fremden konnte ein anwe&#x017F;ender Landmann aus dem Dorfe Hinter¬<lb/>
rhein nicht mit an&#x017F;ehen, und Er, der &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht getraut hatte,<lb/>
den Heimweg anzutreten, &#x017F;chloß &#x017F;ich nun, als alle Gegenreden<lb/>
fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen minde&#x017F;tens als<lb/>
Führer zu dienen. Das Unwetter brach in &#x017F;einer ganzen Furcht¬<lb/>
barkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Pa&#x017F;&#x017F;es er¬<lb/>
reicht hatten. Anfangs unter leicht&#x017F;innigen Scherzen, dann mit<lb/>
ern&#x017F;tlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpf¬<lb/>
ten &#x017F;ie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, &#x2014; allein<lb/>
vergebens. So &#x017F;ehr der wackere Rheinwäldler Allem aufbot, um die<lb/>
Unglücklichen zu retten, &#x017F;o &#x017F;ank dennoch Einer nach dem Anderen,<lb/>
zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußt&#x017F;ein re&#x017F;ignirend, dem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[174/0202] Der Schneeſturm. Im Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetrans¬ port in die Lombardei gebracht und befanden ſich auf dem Heim¬ wege. Alle waren kräftige, geſunde Männer, die daheim ſchon manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe über¬ wunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 1¼ Stunde ſüdlich unter dem gleichnamigen Bergübergange im Kanton Graubünden (auf der Linie von Chur nach Bellinzona), wo ſie einkehrten, warnte man ſie dringend, ihren Weg fortzuſetzen, weil ein Schneeſturm im Anzuge und deshalb die Paſſage lebensgefährlich ſei. Allein an¬ gefeuert durch ſtarken Veltliner Wein und im Bewußtſein des Voll¬ beſitzes ihrer ungeſchwächten phyſiſchen Kräfte, gaben ſie allen Vor¬ ſtellungen kein Gehör und rüſteten zur verhängnißvollen Reiſe. Damals beſtand die gegenwärtige Kunſtſtraße noch nicht, und das jetzt, oberhalb der Victor Emanuels-Brücke, am kleinen Moëſola- See ſtehende ſturmestrotzige, feſte ſteinerne Berghaus auf der Ueber¬ gangshöhe exiſtirte eben ſo wenig. Es war ſomit vom Dorfe Ber¬ nardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbroche¬ ner Marſch von 3½ Stunden Entfernung, zu welchem aber bei dem, durch die gefallene Schneemenge, erſchwerten Fortkommen, mindeſtens 5 Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbeſonnenheit der Fremden konnte ein anweſender Landmann aus dem Dorfe Hinter¬ rhein nicht mit anſehen, und Er, der ſich ſelbſt nicht getraut hatte, den Heimweg anzutreten, ſchloß ſich nun, als alle Gegenreden fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindeſtens als Führer zu dienen. Das Unwetter brach in ſeiner ganzen Furcht¬ barkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Paſſes er¬ reicht hatten. Anfangs unter leichtſinnigen Scherzen, dann mit ernſtlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpf¬ ten ſie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, — allein vergebens. So ſehr der wackere Rheinwäldler Allem aufbot, um die Unglücklichen zu retten, ſo ſank dennoch Einer nach dem Anderen, zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtſein reſignirend, dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/202
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/202>, abgerufen am 21.11.2024.