Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Dorfleben im Gebirge. Wehmutter, ohne ärztliche Hilfe, treten die meisten Alpenbewohnerin den Kreis ihrer Familie ein. Die erste Pflege, welche ihnen wird, steht nicht selten weit unter jener, mit der die wilde Bären¬ mutter ihre Jungen instinktiv versorgt und hegt und schützt. Nicht wenig Gegenden im Alpenlande sinds, deren Bewohner den Kinder¬ segen als eine große materielle Last betrachten; denn ists die Ar¬ muth allein, welche die wandernde Savoyarden-Jugend in die ferne, fremde Welt, ohne Schutz, ohne Anhalt, ohne Mittel hin¬ ausjagt und ihrem Schicksal preisgiebt, -- oder ists nicht viel¬ mehr das beinahe vertrocknete Gemüth, das selbst zu Fels und Stein gewordene Elternherz, das diesen zur Volksgewohnheit ge¬ wordenen Akt immer wieder erneuert? -- Aus diesem Grunde ist auch der Akt der Taufe in vielen Gegenden der Alpen durchaus kein Familienfest. Und wiederum liegt der äußerste Gegensatz dicht daneben. Dort, wo das Volk, sei es aus Glaubenseifer und Ueberzeugung, oder gedrängt von der Nothwendigkeit, Werth auf das Sakrament der Taufe legt, finden oft weite Wanderungen bis zur Kirche der Gemeinde mit dem erst wenig Tage alten Kindlein statt; denn Haustaufen sind in den Alpen unbekannt, und nicht jedes Dorf, nicht jeder weit in einem Seitenthal gelegene Weiler oder Hof hat seine eigene Kirche. Die evangelischen Walliser gingen, als vor einigen Jahrhunderten nach der Reformation ringsum das katholische Glaubensbekenntniß wieder angenommen wurde, mit ihren Täuflingen über Schnee und Eis, wohl 6 bis 7 Stun¬ den weit, nach dem protestantischen Grindelwald, um dort vom Pfarrer ihres Glaubens die kirchliche Weihe über die Aufnahme ihrer Kinder in den Bund der Christenheit sprechen zu lassen, -- einen Weg, den heutzutage der kühnste Berggänger kaum zurückzu¬ legen sich getraut, weil Alles furchtbar vergletschert und von Firn¬ schründen zerrissen ist. Da zeigt sich eben wieder die Kraft und Konsequenz des Aelplers, -- der Ernst und die Ausdauer, der feste Wille und der Muth, nicht nur in Dingen des alltäglichen Dorfleben im Gebirge. Wehmutter, ohne ärztliche Hilfe, treten die meiſten Alpenbewohnerin den Kreis ihrer Familie ein. Die erſte Pflege, welche ihnen wird, ſteht nicht ſelten weit unter jener, mit der die wilde Bären¬ mutter ihre Jungen inſtinktiv verſorgt und hegt und ſchützt. Nicht wenig Gegenden im Alpenlande ſinds, deren Bewohner den Kinder¬ ſegen als eine große materielle Laſt betrachten; denn iſts die Ar¬ muth allein, welche die wandernde Savoyarden-Jugend in die ferne, fremde Welt, ohne Schutz, ohne Anhalt, ohne Mittel hin¬ ausjagt und ihrem Schickſal preisgiebt, — oder iſts nicht viel¬ mehr das beinahe vertrocknete Gemüth, das ſelbſt zu Fels und Stein gewordene Elternherz, das dieſen zur Volksgewohnheit ge¬ wordenen Akt immer wieder erneuert? — Aus dieſem Grunde iſt auch der Akt der Taufe in vielen Gegenden der Alpen durchaus kein Familienfeſt. Und wiederum liegt der äußerſte Gegenſatz dicht daneben. Dort, wo das Volk, ſei es aus Glaubenseifer und Ueberzeugung, oder gedrängt von der Nothwendigkeit, Werth auf das Sakrament der Taufe legt, finden oft weite Wanderungen bis zur Kirche der Gemeinde mit dem erſt wenig Tage alten Kindlein ſtatt; denn Haustaufen ſind in den Alpen unbekannt, und nicht jedes Dorf, nicht jeder weit in einem Seitenthal gelegene Weiler oder Hof hat ſeine eigene Kirche. Die evangeliſchen Walliſer gingen, als vor einigen Jahrhunderten nach der Reformation ringsum das katholiſche Glaubensbekenntniß wieder angenommen wurde, mit ihren Täuflingen über Schnee und Eis, wohl 6 bis 7 Stun¬ den weit, nach dem proteſtantiſchen Grindelwald, um dort vom Pfarrer ihres Glaubens die kirchliche Weihe über die Aufnahme ihrer Kinder in den Bund der Chriſtenheit ſprechen zu laſſen, — einen Weg, den heutzutage der kühnſte Berggänger kaum zurückzu¬ legen ſich getraut, weil Alles furchtbar vergletſchert und von Firn¬ ſchründen zerriſſen iſt. Da zeigt ſich eben wieder die Kraft und Konſequenz des Aelplers, — der Ernſt und die Ausdauer, der feſte Wille und der Muth, nicht nur in Dingen des alltäglichen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0479" n="429"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Dorfleben im Gebirge</hi>.<lb/></fw> Wehmutter, ohne ärztliche Hilfe, treten die meiſten Alpenbewohner<lb/> in den Kreis ihrer Familie ein. Die erſte Pflege, welche ihnen<lb/> wird, ſteht nicht ſelten weit unter jener, mit der die wilde Bären¬<lb/> mutter ihre Jungen inſtinktiv verſorgt und hegt und ſchützt. 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Dorfleben im Gebirge.
Wehmutter, ohne ärztliche Hilfe, treten die meiſten Alpenbewohner
in den Kreis ihrer Familie ein. Die erſte Pflege, welche ihnen
wird, ſteht nicht ſelten weit unter jener, mit der die wilde Bären¬
mutter ihre Jungen inſtinktiv verſorgt und hegt und ſchützt. Nicht
wenig Gegenden im Alpenlande ſinds, deren Bewohner den Kinder¬
ſegen als eine große materielle Laſt betrachten; denn iſts die Ar¬
muth allein, welche die wandernde Savoyarden-Jugend in die
ferne, fremde Welt, ohne Schutz, ohne Anhalt, ohne Mittel hin¬
ausjagt und ihrem Schickſal preisgiebt, — oder iſts nicht viel¬
mehr das beinahe vertrocknete Gemüth, das ſelbſt zu Fels und
Stein gewordene Elternherz, das dieſen zur Volksgewohnheit ge¬
wordenen Akt immer wieder erneuert? — Aus dieſem Grunde iſt
auch der Akt der Taufe in vielen Gegenden der Alpen durchaus
kein Familienfeſt. Und wiederum liegt der äußerſte Gegenſatz dicht
daneben. Dort, wo das Volk, ſei es aus Glaubenseifer und
Ueberzeugung, oder gedrängt von der Nothwendigkeit, Werth auf
das Sakrament der Taufe legt, finden oft weite Wanderungen bis
zur Kirche der Gemeinde mit dem erſt wenig Tage alten Kindlein
ſtatt; denn Haustaufen ſind in den Alpen unbekannt, und nicht
jedes Dorf, nicht jeder weit in einem Seitenthal gelegene Weiler
oder Hof hat ſeine eigene Kirche. Die evangeliſchen Walliſer gingen,
als vor einigen Jahrhunderten nach der Reformation ringsum
das katholiſche Glaubensbekenntniß wieder angenommen wurde,
mit ihren Täuflingen über Schnee und Eis, wohl 6 bis 7 Stun¬
den weit, nach dem proteſtantiſchen Grindelwald, um dort vom
Pfarrer ihres Glaubens die kirchliche Weihe über die Aufnahme
ihrer Kinder in den Bund der Chriſtenheit ſprechen zu laſſen, —
einen Weg, den heutzutage der kühnſte Berggänger kaum zurückzu¬
legen ſich getraut, weil Alles furchtbar vergletſchert und von Firn¬
ſchründen zerriſſen iſt. Da zeigt ſich eben wieder die Kraft und
Konſequenz des Aelplers, — der Ernſt und die Ausdauer, der
feſte Wille und der Muth, nicht nur in Dingen des alltäglichen
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