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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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hier haben wir uns die Frage vorzulegen, welchen Ein-
fluss diese umfangreiche Zerstörung, sowohl der grauen
Substanz als des Marklagers, auf die während des Lebens
constatirte Sprachstörung gehabt haben mag.

Man hat dem Kleinhirn allerdings eine wichtige Rolle
bei der Articulation der Laute zuschreiben wollen,*) doch
sind die klinischen "Beobachtungen nicht geeig-
net, hierüber Aufschluss zu gewähren".
Verfasser
möchte den wenigen einschlägigen Beobachtungen eine
weitere hinzufügen, welche trotz ihrer aphoristischen Kürze
einen verwerthbaren Beitrag zu der Lehre von dem Ein-
fluss des Kleinhirns auf die Sprechfunctionen liefern dürfte,
wenn auch freilich in negativem Sinne:

Am 12. Februar 1882 consultirte mich Herr Dr. B.
Fetzer wegen der 6 jährigen A. K. von Stuttgart. Die-
selbe litt seit Jahr und Tag an multipler Caries, besonders
der Finger und der Unterschenkel und hatte auch schon
vor ca. 1/2 Jahr eine chronische Peritonitis durchgemacht.
Seit einigen Wochen hatte das Sehvermögen in rapider
Weise abgenommen; der Arzt hatte Amaurose constatirt,
und zugleich Hydrocephalus. Das Kind war ausserordent-
lich aufgeweckt und von liebenswürdiger Geduld in seinem
schweren Leiden. Es sprach gern und viel, aber niemals
haben die Angehörigen oder der Arzt, bis in die letzten
Stunden hinein, eine Spur irgend einer Sprachstörung be-
merkt. Die augenärztliche Untersuchung ergab: Erweite-
rung und Starrheit beider Pupillen, keine Lichtempfindung,
Augenspiegelbefund normal.

Ich habe die Kranke seitdem nicht wiedergesehen.
Am 4. April 1882 erfolgte der Tod. Die Section, zu
welcher Herr Dr. Fetzer mich freundlichst einlud, ergab
in Kurzem Folgendes: Kopf sehr ausgedehnt, Schädel-
knochen äusserst dünn, Hirnhäute normal bis auf die

*) Kussmaul, l. c. S. 81.
Berlin, Dyslexie (Wortblindheit). 4

hier haben wir uns die Frage vorzulegen, welchen Ein-
fluss diese umfangreiche Zerstörung, sowohl der grauen
Substanz als des Marklagers, auf die während des Lebens
constatirte Sprachstörung gehabt haben mag.

Man hat dem Kleinhirn allerdings eine wichtige Rolle
bei der Articulation der Laute zuschreiben wollen,*) doch
sind die klinischen „Beobachtungen nicht geeig-
net, hierüber Aufschluss zu gewähren“.
Verfasser
möchte den wenigen einschlägigen Beobachtungen eine
weitere hinzufügen, welche trotz ihrer aphoristischen Kürze
einen verwerthbaren Beitrag zu der Lehre von dem Ein-
fluss des Kleinhirns auf die Sprechfunctionen liefern dürfte,
wenn auch freilich in negativem Sinne:

Am 12. Februar 1882 consultirte mich Herr Dr. B.
Fetzer wegen der 6 jährigen A. K. von Stuttgart. Die-
selbe litt seit Jahr und Tag an multipler Caries, besonders
der Finger und der Unterschenkel und hatte auch schon
vor ca. ½ Jahr eine chronische Peritonitis durchgemacht.
Seit einigen Wochen hatte das Sehvermögen in rapider
Weise abgenommen; der Arzt hatte Amaurose constatirt,
und zugleich Hydrocephalus. Das Kind war ausserordent-
lich aufgeweckt und von liebenswürdiger Geduld in seinem
schweren Leiden. Es sprach gern und viel, aber niemals
haben die Angehörigen oder der Arzt, bis in die letzten
Stunden hinein, eine Spur irgend einer Sprachstörung be-
merkt. Die augenärztliche Untersuchung ergab: Erweite-
rung und Starrheit beider Pupillen, keine Lichtempfindung,
Augenspiegelbefund normal.

Ich habe die Kranke seitdem nicht wiedergesehen.
Am 4. April 1882 erfolgte der Tod. Die Section, zu
welcher Herr Dr. Fetzer mich freundlichst einlud, ergab
in Kurzem Folgendes: Kopf sehr ausgedehnt, Schädel-
knochen äusserst dünn, Hirnhäute normal bis auf die

*) Kussmaul, l. c. S. 81.
Berlin, Dyslexie (Wortblindheit). 4
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[49/0053] hier haben wir uns die Frage vorzulegen, welchen Ein- fluss diese umfangreiche Zerstörung, sowohl der grauen Substanz als des Marklagers, auf die während des Lebens constatirte Sprachstörung gehabt haben mag. Man hat dem Kleinhirn allerdings eine wichtige Rolle bei der Articulation der Laute zuschreiben wollen, *) doch sind die klinischen „Beobachtungen nicht geeig- net, hierüber Aufschluss zu gewähren“. Verfasser möchte den wenigen einschlägigen Beobachtungen eine weitere hinzufügen, welche trotz ihrer aphoristischen Kürze einen verwerthbaren Beitrag zu der Lehre von dem Ein- fluss des Kleinhirns auf die Sprechfunctionen liefern dürfte, wenn auch freilich in negativem Sinne: Am 12. Februar 1882 consultirte mich Herr Dr. B. Fetzer wegen der 6 jährigen A. K. von Stuttgart. Die- selbe litt seit Jahr und Tag an multipler Caries, besonders der Finger und der Unterschenkel und hatte auch schon vor ca. ½ Jahr eine chronische Peritonitis durchgemacht. Seit einigen Wochen hatte das Sehvermögen in rapider Weise abgenommen; der Arzt hatte Amaurose constatirt, und zugleich Hydrocephalus. Das Kind war ausserordent- lich aufgeweckt und von liebenswürdiger Geduld in seinem schweren Leiden. Es sprach gern und viel, aber niemals haben die Angehörigen oder der Arzt, bis in die letzten Stunden hinein, eine Spur irgend einer Sprachstörung be- merkt. Die augenärztliche Untersuchung ergab: Erweite- rung und Starrheit beider Pupillen, keine Lichtempfindung, Augenspiegelbefund normal. Ich habe die Kranke seitdem nicht wiedergesehen. Am 4. April 1882 erfolgte der Tod. Die Section, zu welcher Herr Dr. Fetzer mich freundlichst einlud, ergab in Kurzem Folgendes: Kopf sehr ausgedehnt, Schädel- knochen äusserst dünn, Hirnhäute normal bis auf die *) Kussmaul, l. c. S. 81. Berlin, Dyslexie (Wortblindheit). 4

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/53>, abgerufen am 28.04.2024.