Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

Gegend des Kleinhirns, wo die Pia in ihrem ganzen Um-
fange verdickt und trübe erschien. Beim Abziehen der
weichen Gehirnhäute von dem ausserordentlich ausgedehnt
erscheinenden Grosshirn reisst das Dach des linken Ven-
trikels ein; dasselbe ist kaum 1/2 cm dick und aus der
artificiellen Oeffnung ergiesst sich eine grosse Menge
klarer Flüssigkeit. Sämmtliche Ventrikel erweisen sich
in hohem Grade ausgedehnt.

Die beiden Hälften des Kleinhirns sind je durch
einen umfangreichen sogenannten Tuberkel zerstört, so-
wohl das Marklager, der Nucleus dentatus, wie die Rinden-
schicht. Nur hinten oben und aussen besteht jederseits
noch ein kleiner Rest normaler Corticalis je von ver-
schiedener Ausdehnung.

Man darf unbedingt behaupten, dass beide Hälften
des Kleinhirns in diesem Falle so gut wie gänzlich ver-
nichtet, wenigstens dass seine Function vollständig aus-
geschaltet war -- und dennoch ist während des Lebens
nicht die geringste Andeutung einer Sprachstörung be-
obachtet worden.

In Anbetracht dieser Erfahrung glaube ich, dass für
unsern Fall keinerlei Grund vorliegt, in der Läsion des
linken Kleinhirns das anatomische Substrat der in vivo
beobachteten Sprachstörung zu suchen, umsoweniger, als
ja die, wenn ich so sagen darf, klassische Localität für
die atactische Aphasie, die Broca'sche Stelle, ebenfalls
erkrankt war. Ebenso wenig Grund haben wir die Dys-
lexie mit den Veränderungen des Kleinhirns in ursächliche
Beziehung zu bringen. Auch die Amaurose ist unab-
hängig von denselben, sie erklärt sich zur Genüge aus
dem hochgradigen Hydrocephalus internus und so bliebe
eigentlich weiter kein Symptom übrig, als die exorbitanten
linksseitigen Hinterhauptschmerzen, deren Genese man
den Veränderungen im linken Kleinhirn zuschreiben
könnte.

Gegend des Kleinhirns, wo die Pia in ihrem ganzen Um-
fange verdickt und trübe erschien. Beim Abziehen der
weichen Gehirnhäute von dem ausserordentlich ausgedehnt
erscheinenden Grosshirn reisst das Dach des linken Ven-
trikels ein; dasselbe ist kaum ½ cm dick und aus der
artificiellen Oeffnung ergiesst sich eine grosse Menge
klarer Flüssigkeit. Sämmtliche Ventrikel erweisen sich
in hohem Grade ausgedehnt.

Die beiden Hälften des Kleinhirns sind je durch
einen umfangreichen sogenannten Tuberkel zerstört, so-
wohl das Marklager, der Nucleus dentatus, wie die Rinden-
schicht. Nur hinten oben und aussen besteht jederseits
noch ein kleiner Rest normaler Corticalis je von ver-
schiedener Ausdehnung.

Man darf unbedingt behaupten, dass beide Hälften
des Kleinhirns in diesem Falle so gut wie gänzlich ver-
nichtet, wenigstens dass seine Function vollständig aus-
geschaltet war — und dennoch ist während des Lebens
nicht die geringste Andeutung einer Sprachstörung be-
obachtet worden.

In Anbetracht dieser Erfahrung glaube ich, dass für
unsern Fall keinerlei Grund vorliegt, in der Läsion des
linken Kleinhirns das anatomische Substrat der in vivo
beobachteten Sprachstörung zu suchen, umsoweniger, als
ja die, wenn ich so sagen darf, klassische Localität für
die atactische Aphasie, die Broca’sche Stelle, ebenfalls
erkrankt war. Ebenso wenig Grund haben wir die Dys-
lexie mit den Veränderungen des Kleinhirns in ursächliche
Beziehung zu bringen. Auch die Amaurose ist unab-
hängig von denselben, sie erklärt sich zur Genüge aus
dem hochgradigen Hydrocephalus internus und so bliebe
eigentlich weiter kein Symptom übrig, als die exorbitanten
linksseitigen Hinterhauptschmerzen, deren Genese man
den Veränderungen im linken Kleinhirn zuschreiben
könnte.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0054" n="50"/>
Gegend des Kleinhirns, wo die Pia in ihrem ganzen Um-<lb/>
fange verdickt und trübe erschien. Beim Abziehen der<lb/>
weichen Gehirnhäute von dem ausserordentlich ausgedehnt<lb/>
erscheinenden Grosshirn reisst das Dach des linken Ven-<lb/>
trikels ein; dasselbe ist kaum ½ cm dick und aus der<lb/>
artificiellen Oeffnung ergiesst sich eine grosse Menge<lb/>
klarer Flüssigkeit. Sämmtliche Ventrikel erweisen sich<lb/>
in hohem Grade ausgedehnt.</p><lb/>
        <p>Die beiden Hälften des Kleinhirns sind je durch<lb/>
einen umfangreichen sogenannten Tuberkel zerstört, so-<lb/>
wohl das Marklager, der Nucleus dentatus, wie die Rinden-<lb/>
schicht. Nur hinten oben und aussen besteht jederseits<lb/>
noch ein kleiner Rest normaler Corticalis je von ver-<lb/>
schiedener Ausdehnung.</p><lb/>
        <p>Man darf unbedingt behaupten, dass beide Hälften<lb/>
des Kleinhirns in diesem Falle so gut wie gänzlich ver-<lb/>
nichtet, wenigstens dass seine Function vollständig aus-<lb/>
geschaltet war &#x2014; und dennoch ist während des Lebens<lb/>
nicht die geringste Andeutung einer Sprachstörung be-<lb/>
obachtet worden.</p><lb/>
        <p>In Anbetracht dieser Erfahrung glaube ich, dass für<lb/>
unsern Fall keinerlei Grund vorliegt, in der Läsion des<lb/>
linken Kleinhirns das anatomische Substrat der in vivo<lb/>
beobachteten Sprachstörung zu suchen, umsoweniger, als<lb/>
ja die, wenn ich so sagen darf, klassische Localität für<lb/>
die atactische Aphasie, die <hi rendition="#g">Broca&#x2019;s</hi>che Stelle, ebenfalls<lb/>
erkrankt war. Ebenso wenig Grund haben wir die Dys-<lb/>
lexie mit den Veränderungen des Kleinhirns in ursächliche<lb/>
Beziehung zu bringen. Auch die Amaurose ist unab-<lb/>
hängig von denselben, sie erklärt sich zur Genüge aus<lb/>
dem hochgradigen Hydrocephalus internus und so bliebe<lb/>
eigentlich weiter kein Symptom übrig, als die exorbitanten<lb/>
linksseitigen Hinterhauptschmerzen, deren Genese man<lb/>
den Veränderungen im linken Kleinhirn zuschreiben<lb/>
könnte.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0054] Gegend des Kleinhirns, wo die Pia in ihrem ganzen Um- fange verdickt und trübe erschien. Beim Abziehen der weichen Gehirnhäute von dem ausserordentlich ausgedehnt erscheinenden Grosshirn reisst das Dach des linken Ven- trikels ein; dasselbe ist kaum ½ cm dick und aus der artificiellen Oeffnung ergiesst sich eine grosse Menge klarer Flüssigkeit. Sämmtliche Ventrikel erweisen sich in hohem Grade ausgedehnt. Die beiden Hälften des Kleinhirns sind je durch einen umfangreichen sogenannten Tuberkel zerstört, so- wohl das Marklager, der Nucleus dentatus, wie die Rinden- schicht. Nur hinten oben und aussen besteht jederseits noch ein kleiner Rest normaler Corticalis je von ver- schiedener Ausdehnung. Man darf unbedingt behaupten, dass beide Hälften des Kleinhirns in diesem Falle so gut wie gänzlich ver- nichtet, wenigstens dass seine Function vollständig aus- geschaltet war — und dennoch ist während des Lebens nicht die geringste Andeutung einer Sprachstörung be- obachtet worden. In Anbetracht dieser Erfahrung glaube ich, dass für unsern Fall keinerlei Grund vorliegt, in der Läsion des linken Kleinhirns das anatomische Substrat der in vivo beobachteten Sprachstörung zu suchen, umsoweniger, als ja die, wenn ich so sagen darf, klassische Localität für die atactische Aphasie, die Broca’sche Stelle, ebenfalls erkrankt war. Ebenso wenig Grund haben wir die Dys- lexie mit den Veränderungen des Kleinhirns in ursächliche Beziehung zu bringen. Auch die Amaurose ist unab- hängig von denselben, sie erklärt sich zur Genüge aus dem hochgradigen Hydrocephalus internus und so bliebe eigentlich weiter kein Symptom übrig, als die exorbitanten linksseitigen Hinterhauptschmerzen, deren Genese man den Veränderungen im linken Kleinhirn zuschreiben könnte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/54
Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/54>, abgerufen am 28.04.2024.