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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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dann plötzlich mit einem Ausdrucke des Unwillens den
Blick von dem Buche fort und behauptet nicht weiter
lesen zu können. Aufgefordert, doch wieder den Versuch
zu machen, geht er bereitwillig darauf ein, liest wieder
4 Worte, um dann dieselbe abwehrende Kopfbewegung
zu machen, bei gleichem Gesichtsausdruck wie zuvor. Es
war ein solches Gefühl des Unwillens, der Scheu, weiter
zu lesen, dass der erste Eindruck, den N. davon empfing,
der gleiche war, den er wiederholt bei Hydrophobischen
bekam, wenn man ihnen Getränk darreicht.

Drang er in den Patienten mit Bitten ein, weiter
zu lesen, wobei es gleichgültig war, ob von grossem oder
kleinem Druck etc., so that er sich zuweilen sichtlich
Zwang an, brachte 1--2 Worte weiter heraus, gerieth
aber durch diese Willensanstrengung stets in eine Art
Ohnmachtsanfall.

Das Vorgelesene konnte er beliebig lange nach-
sprechen, überhaupt war nicht die geringste Sprachstörung
vorhanden; auch konnte er leicht und fliessend Dictirtes
schreiben, ohne je zu stocken.

Die Prüfung des Gesichtsfeldes und der Farbenper-
ception ergab dieselben normalen Verhältnisse in beiden
Augen, auch trat bei diesen durch Viertelstunden dauern-
den Anstrengungen ausser allgemeinen Ermüdungserschei-
nungen nicht jenes eigenthümliche Unvermögen der Weiter-
arbeit ein, wie es bei Leseübungen stattfand.

Die Anamnese ergab nichts weiter, als dass Patient
vor 14 Jahren einmal einen eclamptischen Anfall gehabt
hatte. Erst im letzten halben Jahre war der Frau des-
selben ein verändertes Wesen, etwas Unstätes in seinem
Benehmen aufgefallen, was sie dem ausgedehnten Geschäfts-
betriebe zuschreiben zu müssen glaubte.

Nach einem dreiwöchentlichen Aufenthalte in einer
Sommerfrische kehrte der Kranke scheinbar völlig genesen
zurück. Nur das eine Symptom, die Unlust zum Lesen

dann plötzlich mit einem Ausdrucke des Unwillens den
Blick von dem Buche fort und behauptet nicht weiter
lesen zu können. Aufgefordert, doch wieder den Versuch
zu machen, geht er bereitwillig darauf ein, liest wieder
4 Worte, um dann dieselbe abwehrende Kopfbewegung
zu machen, bei gleichem Gesichtsausdruck wie zuvor. Es
war ein solches Gefühl des Unwillens, der Scheu, weiter
zu lesen, dass der erste Eindruck, den N. davon empfing,
der gleiche war, den er wiederholt bei Hydrophobischen
bekam, wenn man ihnen Getränk darreicht.

Drang er in den Patienten mit Bitten ein, weiter
zu lesen, wobei es gleichgültig war, ob von grossem oder
kleinem Druck etc., so that er sich zuweilen sichtlich
Zwang an, brachte 1—2 Worte weiter heraus, gerieth
aber durch diese Willensanstrengung stets in eine Art
Ohnmachtsanfall.

Das Vorgelesene konnte er beliebig lange nach-
sprechen, überhaupt war nicht die geringste Sprachstörung
vorhanden; auch konnte er leicht und fliessend Dictirtes
schreiben, ohne je zu stocken.

Die Prüfung des Gesichtsfeldes und der Farbenper-
ception ergab dieselben normalen Verhältnisse in beiden
Augen, auch trat bei diesen durch Viertelstunden dauern-
den Anstrengungen ausser allgemeinen Ermüdungserschei-
nungen nicht jenes eigenthümliche Unvermögen der Weiter-
arbeit ein, wie es bei Leseübungen stattfand.

Die Anamnese ergab nichts weiter, als dass Patient
vor 14 Jahren einmal einen eclamptischen Anfall gehabt
hatte. Erst im letzten halben Jahre war der Frau des-
selben ein verändertes Wesen, etwas Unstätes in seinem
Benehmen aufgefallen, was sie dem ausgedehnten Geschäfts-
betriebe zuschreiben zu müssen glaubte.

Nach einem dreiwöchentlichen Aufenthalte in einer
Sommerfrische kehrte der Kranke scheinbar völlig genesen
zurück. Nur das eine Symptom, die Unlust zum Lesen

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[53/0057] dann plötzlich mit einem Ausdrucke des Unwillens den Blick von dem Buche fort und behauptet nicht weiter lesen zu können. Aufgefordert, doch wieder den Versuch zu machen, geht er bereitwillig darauf ein, liest wieder 4 Worte, um dann dieselbe abwehrende Kopfbewegung zu machen, bei gleichem Gesichtsausdruck wie zuvor. Es war ein solches Gefühl des Unwillens, der Scheu, weiter zu lesen, dass der erste Eindruck, den N. davon empfing, der gleiche war, den er wiederholt bei Hydrophobischen bekam, wenn man ihnen Getränk darreicht. Drang er in den Patienten mit Bitten ein, weiter zu lesen, wobei es gleichgültig war, ob von grossem oder kleinem Druck etc., so that er sich zuweilen sichtlich Zwang an, brachte 1—2 Worte weiter heraus, gerieth aber durch diese Willensanstrengung stets in eine Art Ohnmachtsanfall. Das Vorgelesene konnte er beliebig lange nach- sprechen, überhaupt war nicht die geringste Sprachstörung vorhanden; auch konnte er leicht und fliessend Dictirtes schreiben, ohne je zu stocken. Die Prüfung des Gesichtsfeldes und der Farbenper- ception ergab dieselben normalen Verhältnisse in beiden Augen, auch trat bei diesen durch Viertelstunden dauern- den Anstrengungen ausser allgemeinen Ermüdungserschei- nungen nicht jenes eigenthümliche Unvermögen der Weiter- arbeit ein, wie es bei Leseübungen stattfand. Die Anamnese ergab nichts weiter, als dass Patient vor 14 Jahren einmal einen eclamptischen Anfall gehabt hatte. Erst im letzten halben Jahre war der Frau des- selben ein verändertes Wesen, etwas Unstätes in seinem Benehmen aufgefallen, was sie dem ausgedehnten Geschäfts- betriebe zuschreiben zu müssen glaubte. Nach einem dreiwöchentlichen Aufenthalte in einer Sommerfrische kehrte der Kranke scheinbar völlig genesen zurück. Nur das eine Symptom, die Unlust zum Lesen

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/57>, abgerufen am 28.04.2024.