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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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Aphasische Störungen waren nicht vorhanden. Die
Untersuchung der übrigen körperlichen Verhältnisse er-
gab ebenfalls nichts Krankhaftes.

Ich wusste dem Patienten unter den gegebenen Um-
ständen keine speciellen therapeutischen Maassregeln vor-
zuschlagen, sondern beschränkte mich darauf, ihm körper-
liche und geistige Ruhe zu empfehlen. Seinem Arzte
schrieb ich, dass kein Cataract vorhanden sei, dass ich
vielmehr die so schnell aufgetretene Lesestörung in An-
betracht der Abwesenheit irgendwelcher Erkrankungen
des Auges, sowie aller bekannten muskulären oder ner-
vösen Ursachen von Asthenopie auf eine cerebrale Affection
zurückführen zu müssen glaube, über deren Natur ich mir
freilich kein hinreichendes Bild zu machen im Stande sei.

Ich habe den Patienten nicht wiedergesehen, allein
etwa ein halbes Jahr später erfuhr ich durch den ver-
storbenen Professor Niemeyer, welcher damals als Kli-
niker in Tübingen fungirte, dass meine Vermuthung
sich bestätigt habe. Herr B. hatte ihn, bald nach seinem
Besuche bei mir, wegen verschiedener cerebraler Symp-
tome, deren ich mich nicht mehr entsinne, consultirt und
sei einige Monate darauf an einem apoplectischen Anfalle
zu Grunde gegangen.

II. Am 23. August 1879 consultirte mich Herr K.
aus Stuttgart wegen einer eigenthümlichen Sehstörung,
welche ihn seit Kurzem befallen habe. Dieselbe war nach
seiner Ansicht die Folge einer, vor wenigen Wochen in
der Schweiz unternommenen Bergparthie, welche den da-
mals 59 jährigen, zur Corpulenz neigenden und an der-
artige Anstrengungen garnicht gewöhnten Mann sehr an-
gegriffen und ihm namentlich heftige Herzpalpitationen
und Athembeschwerden verursacht hatte. Am Tage nach
dieser Tour will er vorübergehende Verdunkelungen vor
den Augen bemerkt und später doppelt gesehen haben.
Die Obscurationen existiren jetzt nicht mehr, aber er fühlt

Aphasische Störungen waren nicht vorhanden. Die
Untersuchung der übrigen körperlichen Verhältnisse er-
gab ebenfalls nichts Krankhaftes.

Ich wusste dem Patienten unter den gegebenen Um-
ständen keine speciellen therapeutischen Maassregeln vor-
zuschlagen, sondern beschränkte mich darauf, ihm körper-
liche und geistige Ruhe zu empfehlen. Seinem Arzte
schrieb ich, dass kein Cataract vorhanden sei, dass ich
vielmehr die so schnell aufgetretene Lesestörung in An-
betracht der Abwesenheit irgendwelcher Erkrankungen
des Auges, sowie aller bekannten muskulären oder ner-
vösen Ursachen von Asthenopie auf eine cerebrale Affection
zurückführen zu müssen glaube, über deren Natur ich mir
freilich kein hinreichendes Bild zu machen im Stande sei.

Ich habe den Patienten nicht wiedergesehen, allein
etwa ein halbes Jahr später erfuhr ich durch den ver-
storbenen Professor Niemeyer, welcher damals als Kli-
niker in Tübingen fungirte, dass meine Vermuthung
sich bestätigt habe. Herr B. hatte ihn, bald nach seinem
Besuche bei mir, wegen verschiedener cerebraler Symp-
tome, deren ich mich nicht mehr entsinne, consultirt und
sei einige Monate darauf an einem apoplectischen Anfalle
zu Grunde gegangen.

II. Am 23. August 1879 consultirte mich Herr K.
aus Stuttgart wegen einer eigenthümlichen Sehstörung,
welche ihn seit Kurzem befallen habe. Dieselbe war nach
seiner Ansicht die Folge einer, vor wenigen Wochen in
der Schweiz unternommenen Bergparthie, welche den da-
mals 59 jährigen, zur Corpulenz neigenden und an der-
artige Anstrengungen garnicht gewöhnten Mann sehr an-
gegriffen und ihm namentlich heftige Herzpalpitationen
und Athembeschwerden verursacht hatte. Am Tage nach
dieser Tour will er vorübergehende Verdunkelungen vor
den Augen bemerkt und später doppelt gesehen haben.
Die Obscurationen existiren jetzt nicht mehr, aber er fühlt

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[4/0008] Aphasische Störungen waren nicht vorhanden. Die Untersuchung der übrigen körperlichen Verhältnisse er- gab ebenfalls nichts Krankhaftes. Ich wusste dem Patienten unter den gegebenen Um- ständen keine speciellen therapeutischen Maassregeln vor- zuschlagen, sondern beschränkte mich darauf, ihm körper- liche und geistige Ruhe zu empfehlen. Seinem Arzte schrieb ich, dass kein Cataract vorhanden sei, dass ich vielmehr die so schnell aufgetretene Lesestörung in An- betracht der Abwesenheit irgendwelcher Erkrankungen des Auges, sowie aller bekannten muskulären oder ner- vösen Ursachen von Asthenopie auf eine cerebrale Affection zurückführen zu müssen glaube, über deren Natur ich mir freilich kein hinreichendes Bild zu machen im Stande sei. Ich habe den Patienten nicht wiedergesehen, allein etwa ein halbes Jahr später erfuhr ich durch den ver- storbenen Professor Niemeyer, welcher damals als Kli- niker in Tübingen fungirte, dass meine Vermuthung sich bestätigt habe. Herr B. hatte ihn, bald nach seinem Besuche bei mir, wegen verschiedener cerebraler Symp- tome, deren ich mich nicht mehr entsinne, consultirt und sei einige Monate darauf an einem apoplectischen Anfalle zu Grunde gegangen. II. Am 23. August 1879 consultirte mich Herr K. aus Stuttgart wegen einer eigenthümlichen Sehstörung, welche ihn seit Kurzem befallen habe. Dieselbe war nach seiner Ansicht die Folge einer, vor wenigen Wochen in der Schweiz unternommenen Bergparthie, welche den da- mals 59 jährigen, zur Corpulenz neigenden und an der- artige Anstrengungen garnicht gewöhnten Mann sehr an- gegriffen und ihm namentlich heftige Herzpalpitationen und Athembeschwerden verursacht hatte. Am Tage nach dieser Tour will er vorübergehende Verdunkelungen vor den Augen bemerkt und später doppelt gesehen haben. Die Obscurationen existiren jetzt nicht mehr, aber er fühlt

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/8>, abgerufen am 22.11.2024.