p1b_144.001 Beitrag für Beseitigung der Thorheit Nutzen gestiftet; aber die ästhetischep1b_144.002 Kritik darf sich nicht um das Utilitätsprinzip kümmern. Sie hat zu fragen: p1b_144.003 Jst dieses Gedicht als Kunstwerk vortrefflich, entspricht es dem Schönheitsideal, p1b_144.004 wie es dem gebildeten Geschmack vorschwebt? Antwort: Nein! Folglich ist das p1b_144.005 Gedicht kein schönes Gedicht und von der Zahl der untadeligen, das Schönheitsideal p1b_144.006 zum Ausdruck bringenden Kunstwerke auszuschließen. Sobald aus p1b_144.007 irgend einem Kunstwerke die Absichtlichkeit hervorleuchtet oder das begrifflichp1b_144.008 Wahre, das Nicht-Jdeale, so hört es damit auf, schön zu sein, wenn es auch p1b_144.009 wahr ist. Die begriffliche Wahrheit hebt den Schein unmittelbaren Zusammenfallens p1b_144.010 der Jdee mit einem Einzelnen auf, und das ist der Schönheit p1b_144.011 zuwider.
p1b_144.012 Aristoteles erkennt (in seiner Poetik C. I.) das Ziel aller Kunst lediglich p1b_144.013 in der Nachahmung (mimesis). Nach seiner Ansicht führte der Trieb der p1b_144.014 Nachahmung und die Freude an derselben zur Poesie. Jhm lagen eben nur die p1b_144.015 griechischen Kunstwerke vor, und er hat wohl an die Architektur ebensowenig p1b_144.016 gedacht, als an Musik oder an die Kunst der Lyrik, wohl aber an Skulptur, p1b_144.017 Malerei und an das Drama, von welch letzterem er seine Definitionen überhaupt p1b_144.018 nur hernahm, und dem er unter allen Arten den Vorzug einräumte. Wäre p1b_144.019 die Aristotelische Ansicht, daß das Wesen der Kunst in der Nachahmung beruht, p1b_144.020 richtig, so wäre die Poesie (wie er später etwas schärfer definiert) die Nachahmung p1b_144.021 des Schönen durch das Wort. Das ist jedoch nicht zutreffend, denn p1b_144.022 viele Nachahmungen durch das Wort (z. B. Juventinus Philomela in Wernsdorfs p1b_144.023 Poetae latini minores 6. 2. 388) sind nichts weniger als Poesie, p1b_144.024 während gewisse Gattungen der Poesie (z. B. der Lyrik) wahrhaftig nimmermehr p1b_144.025 den Zweck der Nachahmung haben. Daß die Außenwelt dem Künstler nur p1b_144.026 die Formen, nicht aber die Gegenstände der Anschauung liefert, bestätigt der p1b_144.027 geniale Rafael in einem Briefe, in welchem er zugesteht, "daß ihm immer p1b_144.028 weniger die Antike genüge, daß er (auf seiner höchsten Stufe) je mehr und p1b_144.029 mehr nur aus der Jdee male." -
p1b_144.030 Bei Hervorbringung des Schönen, das sich im poetischen Kunstwerk entweder p1b_144.031 unter friedfertigem Zusammenwirken oder unter einem Konflikt der dabei p1b_144.032 beteiligten Seelenkräfte äußert, ist die innere Anschauung des Schönheitsideals,p1b_144.033 d. i. die Konzeption der poetischen Jdee wesentlich. Dies geschieht p1b_144.034 durch die reproduktive und produktive Einbildungskraft, welche sich p1b_144.035 allerdings der geistigen oder sinnlichen Wirklichkeit anschließt, und auf diese p1b_144.036 Weise den Berührungspunkt mit der Natur bildet. Die Natur giebt die Form, p1b_144.037 die schöne wie die unschöne; die Poesie lehnt sich an die Natur an, ohne sie p1b_144.038 nachzuahmen, und liefert sodann im Kunstwerk Anschauung des Schönen - p1b_144.039 in der Form sinnlicher Wirklichkeit.
p1b_144.040 Mit der produktiven und reproduktiven Einbildungskraft, als deren Triebfeder p1b_144.041 sich Horaz den Schwung der Begeisterung denkt (die vis divinior neben p1b_144.042 dem ingenium. Sat. 1. 4. 43), muß sich bei Hervorbringung des Schönen p1b_144.043 als oberster Faktor des Gefühls der veredelte Geschmack verbinden, von welchem
p1b_144.001 Beitrag für Beseitigung der Thorheit Nutzen gestiftet; aber die ästhetischep1b_144.002 Kritik darf sich nicht um das Utilitätsprinzip kümmern. Sie hat zu fragen: p1b_144.003 Jst dieses Gedicht als Kunstwerk vortrefflich, entspricht es dem Schönheitsideal, p1b_144.004 wie es dem gebildeten Geschmack vorschwebt? Antwort: Nein! Folglich ist das p1b_144.005 Gedicht kein schönes Gedicht und von der Zahl der untadeligen, das Schönheitsideal p1b_144.006 zum Ausdruck bringenden Kunstwerke auszuschließen. Sobald aus p1b_144.007 irgend einem Kunstwerke die Absichtlichkeit hervorleuchtet oder das begrifflichp1b_144.008 Wahre, das Nicht-Jdeale, so hört es damit auf, schön zu sein, wenn es auch p1b_144.009 wahr ist. Die begriffliche Wahrheit hebt den Schein unmittelbaren Zusammenfallens p1b_144.010 der Jdee mit einem Einzelnen auf, und das ist der Schönheit p1b_144.011 zuwider.
p1b_144.012 Aristoteles erkennt (in seiner Poetik C. I.) das Ziel aller Kunst lediglich p1b_144.013 in der Nachahmung (μίμησις). Nach seiner Ansicht führte der Trieb der p1b_144.014 Nachahmung und die Freude an derselben zur Poesie. Jhm lagen eben nur die p1b_144.015 griechischen Kunstwerke vor, und er hat wohl an die Architektur ebensowenig p1b_144.016 gedacht, als an Musik oder an die Kunst der Lyrik, wohl aber an Skulptur, p1b_144.017 Malerei und an das Drama, von welch letzterem er seine Definitionen überhaupt p1b_144.018 nur hernahm, und dem er unter allen Arten den Vorzug einräumte. Wäre p1b_144.019 die Aristotelische Ansicht, daß das Wesen der Kunst in der Nachahmung beruht, p1b_144.020 richtig, so wäre die Poesie (wie er später etwas schärfer definiert) die Nachahmung p1b_144.021 des Schönen durch das Wort. Das ist jedoch nicht zutreffend, denn p1b_144.022 viele Nachahmungen durch das Wort (z. B. Juventinus Philomela in Wernsdorfs p1b_144.023 Poetae latini minores 6. 2. 388) sind nichts weniger als Poesie, p1b_144.024 während gewisse Gattungen der Poesie (z. B. der Lyrik) wahrhaftig nimmermehr p1b_144.025 den Zweck der Nachahmung haben. Daß die Außenwelt dem Künstler nur p1b_144.026 die Formen, nicht aber die Gegenstände der Anschauung liefert, bestätigt der p1b_144.027 geniale Rafael in einem Briefe, in welchem er zugesteht, „daß ihm immer p1b_144.028 weniger die Antike genüge, daß er (auf seiner höchsten Stufe) je mehr und p1b_144.029 mehr nur aus der Jdee male.“ ─
p1b_144.030 Bei Hervorbringung des Schönen, das sich im poetischen Kunstwerk entweder p1b_144.031 unter friedfertigem Zusammenwirken oder unter einem Konflikt der dabei p1b_144.032 beteiligten Seelenkräfte äußert, ist die innere Anschauung des Schönheitsideals,p1b_144.033 d. i. die Konzeption der poetischen Jdee wesentlich. Dies geschieht p1b_144.034 durch die reproduktive und produktive Einbildungskraft, welche sich p1b_144.035 allerdings der geistigen oder sinnlichen Wirklichkeit anschließt, und auf diese p1b_144.036 Weise den Berührungspunkt mit der Natur bildet. Die Natur giebt die Form, p1b_144.037 die schöne wie die unschöne; die Poesie lehnt sich an die Natur an, ohne sie p1b_144.038 nachzuahmen, und liefert sodann im Kunstwerk Anschauung des Schönen ─ p1b_144.039 in der Form sinnlicher Wirklichkeit.
p1b_144.040 Mit der produktiven und reproduktiven Einbildungskraft, als deren Triebfeder p1b_144.041 sich Horaz den Schwung der Begeisterung denkt (die vis divinior neben p1b_144.042 dem ingenium. Sat. 1. 4. 43), muß sich bei Hervorbringung des Schönen p1b_144.043 als oberster Faktor des Gefühls der veredelte Geschmack verbinden, von welchem
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der Jdee mit einem Einzelnen auf, und das ist der Schönheit p1b_144.011
zuwider.
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Aristoteles erkennt (in seiner Poetik C. I.) das Ziel aller Kunst lediglich p1b_144.013
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Nachahmung und die Freude an derselben zur Poesie. Jhm lagen eben nur die p1b_144.015
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die Aristotelische Ansicht, daß das Wesen der Kunst in der Nachahmung beruht, p1b_144.020
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des Schönen durch das Wort. Das ist jedoch nicht zutreffend, denn p1b_144.022
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Bei Hervorbringung des Schönen, das sich im poetischen Kunstwerk entweder p1b_144.031
unter friedfertigem Zusammenwirken oder unter einem Konflikt der dabei p1b_144.032
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d. i. die Konzeption der poetischen Jdee wesentlich. Dies geschieht p1b_144.034
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allerdings der geistigen oder sinnlichen Wirklichkeit anschließt, und auf diese p1b_144.036
Weise den Berührungspunkt mit der Natur bildet. Die Natur giebt die Form, p1b_144.037
die schöne wie die unschöne; die Poesie lehnt sich an die Natur an, ohne sie p1b_144.038
nachzuahmen, und liefert sodann im Kunstwerk Anschauung des Schönen ─ p1b_144.039
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/178>, abgerufen am 24.11.2024.
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